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Sonntag, 2. Juni 2013

Die graue Maus und der Baum






Ein Stock schlug mehrfach auf den alten Holzboden, begleitet von einem tyrannischen Ruf, der keinen Widerspruch duldete: „Hedwig! Wo bleibt meine Medizin?“
Hedwig stand in der Küche und sah gedankenverloren zu der uralten Kastanie. Die grünen Blätter des Baumes tanzten im Sonnenlicht und wurden vom Wind gestreichelt. Eine Liebkosung der Elemente.
Die Rufe ihres Vaters wurden drängender. Sie nahm das vorbereitete Tablett und ging nach oben zum elterlichen Schlafzimmer. Hedwig wurde mit einem Schwall von Vorwürfen empfangen. Sie sei eine Träumerin, undiszipliniert und zu nichts nutze. Es war täglich das gleiche Ritual, nur die Reihenfolge der Beschimpfungen variierte.
Ihr Blick traf das Foto der Mutter, die ihr auf dem Sterbebett das Versprechen abnahm, sich um den todkranken Vater zu kümmern. Das war vor fast 3 Jahren.
Die Launen des Mannes spiegelten sich im Tageslevel seiner Schmerzen. Er hatte Hedwig nie geliebt. Ihm fehlte der männliche Erbe, der den Hof übernehmen und den guten Namen in die Zukunft retten sollte. Stattdessen musste er sich mit einer weiblichen grauen Maus abfinden.




„Mein Gott, schau dich doch mal an, wie du aussiehst“, blaffte er Hedwig an, „wie eine vertrocknete Jungfer und dabei bist du noch nicht mal 30!“ „Ich werde bald 35, Vater“, versuchte sie zu widersprechen. „Noch schlimmer. Du wirst nie einen Mann abbekommen.“ Fieberhaft suchte der kranke Mann nach einer Bosheit. Seine Hände strichen hektisch die Bettdecke glatt:“ Aber…. wer will auch schon so was Hässliches?!“ Das saß!
Mit Tränen in den Augen rannte Hedwig nach unten. Ihr aufgebauter Schutzpanzer, hatte wieder einen schmerzlichen Riss bekommen.
Im Flur war ein großer Spiegel. Sie blieb stehen und sah zögernd hinein. Alles war grau. Die Kleidung, das Gesicht die Augenringe, das Haar. Ihr Vater hatte Recht, sie war hässlich!
Sie lief zu ihrem Baum der gleich hinter dem Haus stand und lehnte sich, wie schon als Kind, schützend daran. Er gab ihr Sicherheit. Ein Freund, der sie ein ganzes Leben lang begleitet hatte. Still weinte sie in sich hinein und wünschte sich nichts sehnlicher, als einmal geliebt zu werden, sich einmal schön zu fühlen.


Ihr Blick glitt zum Ufer des Sees. Die Anziehungskraft wurde immer größer. Einfach hineingehen, einfach weitergehen…
„Klappt nicht“, schoss es ihr durch den Kopf, „du kannst schwimmen! Außerdem hast du Angst vor dem Tod und was viel schlimmer ist, du hast Angst vor dem Leben.“ Es war der Baum, der zu ihr sprach. Zumindest war Hedwig fest davon überzeugt. Diese Zwiegespräche waren der einzige Lichtblick in dem sonst so grauen Leben.
Sie musste schon als junges Mädchen im Haushalt helfen, da ihre Mutter seit ihrer Geburt kränkelte. Eine Herzminderleistung, die eine Schwangerschaft zum Risiko machte. Sie hat sich nie wider richtig erholt. Dafür hasste sie ihr Vater nur noch mehr. Sie war an allem Schuld.
Hedwig bekam keine Chance weiter die Schule zu besuchen, da ihre Mutter immer bettlägeriger wurde. Der einzige Trost der ihr blieb, waren der Baum und 5m Bücher. Zusammengetragene Werke die mehr oder wenig zufällig ins Haus gelangt waren. Hedwig hatte ihre Eltern nie ein Buch lesen sehen. Da stand im Regal zwischen Universal-Lexikon und der Bibel, Simmel, Goethe, Konsalik, Huxley, 1001 Nacht, Märchen, Orson Wels, Griechische Sagen, Jules Verne und ein Weltatlas mit Völkerkunde.
So durchlebte Hedwig die Geschichten der Scheherazade, ging mit Kapitän Nemo auf Abenteuer und reiste mit Hilfe des Atlas um die ganze Welt.
Sie war nie weiter als in die Kreisstadt gekommen. Da ihr dort alles fremd war, fühlte sie sich unwohl. Im Dorf kam sie gut zurecht. Vertraute Menschen, die das Tuscheln über sie aufgegeben hatten. Man nannte sie nur die graue Maus. Doch das wusste Hedwig nicht.
Als wenn die schwarzen Wolken über der Familie nicht groß genug waren, passierte der schreckliche Autounfall, der den Vater ans Bett fesselte. Es war ein Wunder, dass er es überlebt hatte, ein Wunder, dass er immer noch lebte. Vielleicht war es die Lebenswut, die ihn nicht sterben ließ.
Nun musste Hedwig die spezielle und umfangreiche Krankenpflege übernehmen, da der Despot keinen Fremden um sich haben wollte.
Hedwigs Leben war nicht nur grau, sondern grau in grau.

Hedwig rappelte sich hoch um das Essen für den Vater vorzubereiten. Genau in dem Moment sauste mit einem satten Plumps, ein menschlicher Körper auf den Boden. Wie gelähmt verharrte sie auf der Stelle und zwang sich hinzusehen. Sie vernahm ein Stöhnen und sah einen dunkelhäutigen Mann, der versuchte seine Knochen zu sortieren. Instinktiv machte sie ein paar Schritte zurück. Hatte sie eh Angst vor allem Fremden, sah dieser Mensch auch noch fremdartig aus. Eigentlich sah sie nur rollendes Augenweiß und das Blitzen von Zähnen. Alle Warnungen vom schwarzen Mann, aus ihrer Kinderzeit, fielen ihr ein. Hedwig warf dem Baum einen bösen Blick zu, weil er sie schlichtweg auslachte.
Der etwa 45 Jahre alte Mann tastete immer noch seinen Körper nach Verletzungen ab. Hedwig schaute sich wie ein gehetztes Tier um, unfähig einfach wegzulaufen. Eine tiefe Stimme entschuldigte sich im gebrochenen Deutsch und humpelte davon.
Hedwig ging ins Haus und murmelte immer wieder: “Du hast dir das nur eingebildet. Schwarze Männer fallen nicht einfach von den Bäumen. Das versucht dir die Kastanie nur einzureden und lacht sich gerade einen Ast ab.
Das Schlagen des Stockes und der Ruf nach dem Essen, ließ Hedwig wieder in die reale Welt zurück gleiten. Es war nichts geschehen. Leider war auch nichts im Punkto Essen geschehen. Schnell improvisierte sie hastig einen Imbiss und ging nach oben ins Zimmer der Beleidigungen. Es war das erste Mal seit langem, das ihre Wangen einen rosigen Schimmer hatten. Der Vater schaute sie misstrauisch an und meckerte eher verhalten über die Verspätung. Aber die feindseligen Augen versuchten das Geheimnis des Rosas zu ergründen.


Am nächsten Morgen lag ein großer Feldblumenschrauß am Baum. Hedwig sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Sie blickte nach oben ins Laub. – Nichts!
„Dachtest du ich beherberge schwarze Männer, die ich bei Bedarf abschüttel?“ Kam es ironisch von der Kastanie. “Nein, aber ER war gar nicht so schwarz, “ antwortete Hedwig laut.
„Na gut, dann sind meine Kastanien hellbraun mit leichter Tendenz zu einem Milchkaffeeton“, konterte der Baum.
Sie knuffte gut gelaunt den dicken Freund und rannte von da an jeden Morgen zur Kastanie. Und jeden Morgen lag ein gepflückter Sommergruß am Stamm.
Der Baum wurde schon ganz eifersüchtig. „Wenn das so weitergeht, spiele ich mitten im Sommer, Herbst, und werfe alle Blätter ab!“ Hedwig küsste die Rinde und nannte ihn liebevoll: „Holzkopf“.
Die Beschimpfungen ihres Vaters nahm sie nicht mehr wahr. Seine Worte prallten an einer unsichtbaren Wand ab.
Sie stand immer früher auf, um den geheimnisvollen Blumenkavalier zu sehen. Die Vase auf dem Küchentisch wurde zur wechselnden Dekoration. Sie überlegte, ob die verschiedenen Blumenarten eine eigene Sprache haben oder nur ein Zufall der Jahreszeit waren. Sie hatte nie Blumen bekommen und somit war jeder Morgen ein aufregender Moment der Hoffnung.
Im Dorf sah sie sich schüchtern um, ob sie den Fremden entdecken konnte.
Gerade als Hedwig Brot einkaufte, hörte sie zwei Frauen miteinander sprechen, das Bauer Klose sich billige Arbeitskräfte aus dem Urwald geholt hätte. Sie wurden als Gesindel abgetan und man sollte tunlichst die Türen verschließen. Man kennt das ja, die klauen wie die Raben und überhaupt, die bringen nur Unruhe ins Dorf! Man stelle sich nur vor, man würde so was im Dunkeln begegnen, da bekäme ja man eine Herzattacke.
Die Vollfett-Rednerin kam ins schwitzen. Eine Dritte sagte lauthals in den Raum: “Die sollen schleunigst wieder verschwinden wo sie hergekommen sind. Ach Gott und unsere armen Töchter, du lieber Himmel…!“
An dieser Stelle passierte ein kleines Wunder. Hedwig drehte sich um und sagte mit fester Stimme: „Warum verurteilen sie Menschen, nur weil sie anders aussehen?“ Mit hochrotem Kopf ging sie aus dem Laden. Das Brot lag noch auf den Tresen, das Wechselgeld auch.

Hedwig durchwühlte den Kleiderschrank ihrer Mutter. Sie probierte zögernd eine weiße Bluse mit Spitzenkragen. Was sie im Spiegel sah gefiel ihr und sie zog sich somit den ganzen Vormittag um. Ihre halblangen Haare standen ihr zu berge, aber sie hatte einige hübsche Sachen gefunden, die ihr wunderbar passten. Allerdings das rote Kleid aus reiner Seide, das sich ihre Mutter zur Silberhochzeit gekauft hatte, wurde ganz hinten in ihrem Schrank verstaut. Die Farbe erschien ihr zu gewagt. Leider passten die Schuhe nicht.
„Wo bleibt das Brot?“ beendete die herrische Stimme die Anprobe. „Heute gibt’s kein Brot!“ und holte Zwieback aus der Küche. Der Vater sagte nichts und schaute seine Tochter mit den struppigen Haaren nur misstrauisch an. Irgendwas stimmte nicht.
Hedwig erledigte schweigend die Routinearbeit und überlegte fieberhaft was sie unternehmen könnte um dem Blumenmensch ein Zeichen zu geben.
„Ist das jetzt Mode, wie du die Haare trägst?“ bellte der Bett-Terrier. Hedwig wusste gar nicht was ihr Vater meinte und strich sich mechanisch über ihre Haare.
Und dann hatte sie eine Idee, was man tun könnte um sich für die schönen Blumen zu bedanken. Schnell ging sie nach unten und kam am großen Spiegel vorbei. Sie blickte kurz rein und erstarrte. Ihre Haare klebten teilweise in ihrem Gesicht und der Rest stand in alle Himmelsrichtungen. Sie musste lachen. Umso länger sie ihr Spiegelbild betrachtete, umso mehr musste sie lachen. Sie stopfte sich die Faust in den Mund, damit der Vater nichts davon mitbekam. Nun glühten ihre Wangen. Sie schnappte sich einen Apfel und schrieb auf einen kleinen Zettel die Worte:
Vielen Dank!
Ich freue mich sehr über die Blumen.
Mein Name ist Hedwig.
Tagelang lagen keine Blumen an der Kastanie. Hedwig wurde von Tag zu Tag trauriger und die Vorwürfe des Vaters drangen wieder ins Bewusstsein. Ein stetiger Tropfen, der die Seele aushöhlte. Ende der Woche lagen Kornblumen auf einem Blatt Papier. Es war eine Kohlezeichnung. Auf der waren sie und der Baum zu sehen. Hedwig sah eine schöne Frau, die entspannt unter der Kastanie lag und mit offenen Augen träumte. Ihren Augen! Die Zeichnung stammte von einem Künstler.
Es war ihr erstes Geschenk! Tränen der Verblüffung rannten ihr runter. „He pass auf! Dein Salzwasser versaut die ganze Zeichnung, “ warnte der Baum. Sie hielt den Bogen Papier weit von sich und lief mit ausgestrecktem Arm in ihr Zimmer. Ohne groß zu überlegen wechselte sie einen Druck mit der wertvollen Zeichnung. Fassungslos stand sie nun davor und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Im Baum war ein Herz mit Namen eingeritzt: Hedi und Rolfo.
Hedi hatte das Gefühl die Erde dreht sich. Sie musste einen Halt finden und war gleichzeitig überglücklich. Sie schrieb in ihrer Euphorie mit heftigem Herzklopfen einen langen Brief. Der Inhalt war eher banal aber sie drückte in allen Zeilen ihre Freude über die Zeichnung aus.
Wieder verging fast eine Woche. Diesmal lag ein kleiner Zettel unter einer Rose. Auf dem Zettel stand:
Ich kann weder lesen noch schreiben.
Darunter in einer anderen Schrift: Rolfo.
Hedwig lauschte zum Baum, aber auch er war sprachlos. Sie drehte den Zettel um und schrieb: Ich werde es Dir beibringen. Morgen um 8Uhr am Baum.
Am nächsten Morgen lag wieder eine Zeichnung da, die zeigte wie Rolfo hilflos vom Baum fiel und sie ungläubig daneben stand. Hedwig hüpfte vor Freude und presste das Bild an sich. Es wurde umgehend zum ersten gehängt. Sie versuchte jede Linie sich einzuprägen. Mit wie wenig Strichen kam Rolfo aus. Wie viel Licht zauberte er mit schwarz/weiß. Sie konnte sich kaum von den Bildern trennen.
Der Abend kam und Hedwig ging vor Aufregung immer öfter auf die Toilette. Schon vor Stunden hatte sie Schreibheft und Stifte zurecht gelegt. Auf dem Dachboden hatte sie noch ein altes Lesebuch gefunden. Es war schon sehr zerfleddert. Der ursprüngliche Besitzer war nicht mehr festzustellen. Hedwig wusste überhaupt nicht, wie sie Rolfo Lesen und Schreiben beibringen sollte. Sie wusste nicht einmal ob er Deutsch konnte.


Eine Minute vor 8 Uhr begann das erste Rendezvous für Hedwig, die sich nur noch Hedi nennen wollte. Statt einem Lippenstift, neuer Frisur oder dem ersten BH als Vorbereitung auf das Treffen, hatte sie sich Schreibutensilien für Erstklässler unter dem Arm geklemmt.
Er stand groß, muskulös und etwas verlegen am Baum und hielt eine Sommermargarite in der Hand. Rolfo sagte gar nichts, sondern steckte ihr die Blüte ins Haar.
Hedi starrte ihn an und vergaß alles.
„Hallo, aufwachen!“ kam es vom Baum. Hedi stammelte irgendeinen Blödsinn von: „Schöner Abend, und das Licht wäre gleich weg, eh Tageslicht“. Rolfo zeigte seine weißen Zähne und bestätigte alles was Hedi so von sich gab mit „JA“.
„Also um raus zu bekommen ob er mehr als „JA“ sagen kann, musst du eine Frage stellen“, feixte der Baum „Woher kommen sie?“ hörte sich Hedi krächzen.
Mit einer wundervollen tiefen Stimme erzählte Rolfo, dass er aus Südamerika käme. Sein Deutsch war nicht fließend, aber doch sehr gut verständlich. Er sähe gar nicht wie ein Südamerikaner aus, meinte Hedi und versuchte sich an alles zu erinnern was der große Atlas mit Völkerkunde ihr vermittelt hatte.
Nein, seine Ururur-Großeltern wurden als Sklaven nach Brasilien verschleppt und konnten kurz darauf 1845 nach Uruguay flüchten, da man dort 3 Jahre zuvor die Sklaverei abgeschafft hatte.
„Autsch!“ kam es vom Baum.
Hedis gesamten Urs hatten das Dorf kaum verlassen. Von Uruguay hatten sie bestimmt nicht viel oder gar nichts gehört. Der Hof war seit vielen Generationen im Familienbesitz und somit der zentrale Mittelpunkt der Erde.
Die Dämmerung kam und sie trennten sich mit einem unsicheren Handschlag. Gelehrt wurde an dem ersten Abend nichts, aber gelernt.
Hedi schwebte die Stufen hoch, machte vor der Tür des Kranken eine Kehrtwendung und schwebte wieder in die Küche, nahm den vergessenen Schlaftrunk für den Meckerkopf und schwebte wieder nach oben. Der Vater starrte auf die Margarite im Haar seiner Tochter. Hedi bemerkte gar nichts und schüttelte die Kissen auf. Er ergriff die Blüte und zerquetschte sie langsam zwischen den Fingern. Er würde so was Albernes nicht dulden und verbot ihr die Kleidung der verstorbenen Mutter zu tragen.
„Gut“, antwortete Hedi, „dann werde ich mich in den nächsten Tagen neu einkleiden.“
Sie übersah den schlaffen Gesichtsausdruck des Mannes, der ihr nie ein Vater war.

Von nun an traf sich das ungleiche Paar fast täglich. Als es kälter wurde gingen sie in den Schuppen, der früher von Knechten bewohnt wurde. Da stand sogar ein kleiner gusseiserner Ofen drin. Rolfo lernte sehr schnell. Das alte Lesebuch war sein ständiger Begleiter. Im Gegenzug erzählte er Hedi über seine traumhafte Heimat. Die landschaftlichen Beschreibungen waren so bildhaft, dass Hedi glaubte das Salzwasser des Meeres zu schmecken und das weite Land zu fühlen und hörte den Schlag der Hufen von unzähligen Rindern.
Die absolute Armut von Rolfos Eltern schaffte es, dass ein intelligenter Junge an der Schule vorbeischlitterte. Man bemühte sich auch nicht all zu sehr um die Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten. Später tarnte er geschickt den Mangel. Kaum einer hatte mitbekommen, das Rolfo weder schreiben noch lesen konnte. Er hat als Kind noch in den Yacumenza, den Dachkammern der großen Mietshäuser gewohnt. Er ist mit Trommeln groß geworden. Während Rolfo erzählte trommelte er mit den Händen auf den Tisch, dass der Bleistift im Rhythmus hüpfte. Er konnte den Text vom uruguayischen Musiker José Carbajal zum Teil in Deutsch. Seine Bassstimme lies Worte zu Bildern aufsteigen:
“Mit ihren Liedern bringen sie dich, gepflastertes Sträßchen, zum Vibrieren,
die Schwarzen mit rauen Stimmen die Schwarzen mit harten Händen.
So hart wie das Leben hier im Süden Montevideos,
mit seinen kaputten Mietshäusern und Zimmern,
wo sich beinahe zerstörte Kinder und Träumer sammeln.“
Rolfo träumte davon, ein berühmter Kunstmaler zu werden. Er zeichnete seine Gedanken, seine Wünsche, seine Zukunft.
In Uruguay hatte er schlechte Chancen für einen Job. Hedi musste bei den Worten lächeln: „Ein farbiger Analphabet, ist aber auch die Härte.“ Sein Gesicht wurde eine Spur ablehnend, aber dann musste auch er lächeln. Aber irgendwie wird er alles schaffen, was er sich vorgenommen hat. Bei diesen Worten schob er trotzig seine Unterlippe vor.
Sie bewunderte ihn. Wenn sie doch nur etwas von dieser Kraft hätte. Sie durchlebte die Gefühle und scheiterte an Mauern die sie selber aufgebaut hatte.


Es war der erste warme Sommertag des Jahres, als Hedi gedankenverloren am Fuße ihres Baumes saß. Er summte eine Melodie der Melancholie. Wusste er doch, das Hedi daran dachte ihn zu verlassen. Hedi war eine hübsche Frau geworden mit leuchtenden Augen. Sie hatte mutig das rote Silberhochzeitskleid ihrer Mutter angezogen. Ihr Kampf war beendet, sie wollte mit Rolfo nach Uruguay gehen. Heute will sie es ihm sagen. Heute…
Sie legte ihr Ohr an ihrem Baumfreund und hoffte auf seine Zustimmung. Sie sah die peitschenden Atlantikwellen die sich zügellos gegen die Felsen am Cabo Polonio austobten. Sie sah die endlosen Sanddünen, in denen man barfuss laufen konnte. Freute sich auf die Seelöwen, Pinguine, Wale und Delfine. Lebewesen dieser Welt, die sie noch nie real gesehen hatte. Sie erzählte der Kastanie, dass es einen Wald von Ombúes Bäumen gibt, die sonst nur einzeln zu finden sind und schon über 100 Jahre auf der Rinde hatten. Schade, dass sie ihren Blätterfreund nicht mitnehmen konnte. „Hör auf, sonst fang noch an zu flennen und hast du schon mal Kastanie heulen sehen? Na also! Ich hab noch eine Bitte. Ritzt ein Herz in meine Rinde, wie auf der Zeichnung.“
Rolfo kam und schnitze das Herz in den Baum. Es war wie eine Gedankenübertragung. Keiner hatte davon gesprochen. Hedi nahm Rolfos Hand und zog ihn in den Schuppen.
Sie verbrachten eine stürmische Nacht voller Leidenschaft. Alles was sich über Monate angestaut hatte, brach den Damm der Gefühle. Es war für Hedi alles was sie sich je gewünscht hatte. Sie wurde geliebt und fühlte sich schön. Sie war schön und das war nicht das Kleid ihrer Mutter, das lag irgendwo im Schuppen. Und der Bass streichelte ihre Seele.
Es wurde schon hell, als Hedi glücklich zurück zu ihrem Zimmer taumelte. Sie hatte vergessen Rolfo zu sagen, dass sie mit ihm in seine Heimat gehen wollte. Morgen…
Übelkeit stieg in ihr hoch. „Vielleicht bist du schwanger?!“ blödelte der Baum durchs offene Flurfenster. „Wie schön!“ schlich es sich aus ihrem Mund. Ein dumpfer Schmerz machte sich breit. Irgendeine Macht zog sie auf den Boden. „Erinnere dich“, sagte der Baum zärtlich, „der Arzt sagte damals dass du das gleiche schwache Herz geerbt hast.“ „Mein Gott ich war damals noch ein Kind und habe den Sinn der Worte nicht verstanden“, murmelte sie in den Teppichläufer vor ihrer Zimmertür.
Und dann wurde alles ganz leicht und hell. Sie sah den Sonnenuntergang am Río de la Plata. Die Wellen umspülten ihren Körper. Rolfos starke Arme hielten sie fest.
Sie tanzte Candombe durch die Gassen von Montevideo. An der Spitze war Mamá Inés, eine ältere Frau, die ihre Körpermassen im Takt schüttelte, dabei einen mit bunten Büscheln verzierten Sonnenschirm trug. Nie hatte sie solch eine Lebensfreude gefühlt…..und dann schwebte sie zum Baum und verschmolz im Zyklus der Zeit
Als man sie fand, hatte sie immer noch das Leuchten im Gesicht. .

Difi

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