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Samstag, 15. Februar 2020

Land im Ausnahmezustand

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Wenn die Abendsonne Montevideo in rotes Licht taucht und der treibende Rhythmus unzähliger Trommeln durch die Gassen schallt, dann geht Alvaro Rabasquiño das Herz auf. Der Stress der vergangenen Monate ist nun endlich vorbei. Jetzt heißt es Abschalten, Freunde treffen, Feiern. Und dem treibenden Beat der hereinbrechenden Karnevalsnacht lauschen.


Kaum jemand hat wohl ein feineres Ohr dafür als Alvaro. Denn viele der Trommeln, die heute erklingen, hat er mit seinen eigenen Händen erschaffen. Er gilt als der Beste seines Fachs in Montevideo, wenn nicht gar in ganz Uruguay. Der Herr der Trommeln, der Trommel-Gott. So ist es nicht verwunderlich, dass sich in letzter Zeit etliche Candombe-Drummer die Klinke seiner bescheidenen Werkstatt am Stadtrand in die Hand gegeben haben. Denn das alles beherrschende Instrument des Candombe sind die Trommeln.
Aber was ist eigentlich Candombe? »Candombe bezeichnet im eigentlichen Sinn den Rhythmus Uruguays, den afrikanische Sklaven ab 1750 in das winzige Land zwischen den beiden Riesennachbarn Argentinien und Brasilien brachten«, erklärt der Maestro. »Der sich, genau wie Tango und Samba über zwei Jahrhunderte zu einem völlig eigenen Musikstil entwickelte.«


Zu Zeiten der Sklaverei ein Ventil der geschundenen Seelen, eine nächtliche Auszeit am Stadtrand Montevideos. Eine explosive Mischung aus treibendem Rhythmus und hypnotischem Tanz, um für wenigstens ein paar Stunden in eine andere Realität zu tauchen. Zu gefährlich, befand 1808 die spanische Kolonialmacht und verbot Candombe kurzerhand. Vergebens. Heute ist Candombe ein integraler Bestandteil der uruguayischen Kultur, gar ein immaterielles Erbe der Weltkultur. Das entschied jedenfalls die Unesco im Jahre 2009.


Das ganze Jahr über ziehen die Trommler und Tänzerinnen am Wochenende durch die Straßen der Barrios Sur und Palermo. Nein, die wohlhabendsten Stadtteile sind das sicher nicht von Montevideo. Die Häuser sind hier kleiner, die Schlaglöcher größer, der Putz bröckelt an jeder Ecke. Doch das scheint hier niemanden wirklich zu stören. Zumindest nicht im karnevalistischen Januar.
Tänzerin Maria von der Candombe-Gruppe Integracion lässt sich von ihrer kleinen Schwester in einer Lagerhalle schminken. Nicht wirklich schön, dafür recht kräftig. Die Schwester ist sicher kein Make-up-Artist und auch Maria würde vermutlich keinen Schönheitswettbewerb gewinnen. Müssen beide auch nicht. Selbst die Kostüme wirken bei näherer Betrachtung recht improvisiert.
Trommelbauer Alvaro Rabasquiño mit einer Candombe-Trommel.
Trommelbauer Alvaro Rabasquiño mit einer Candombe-Trommel.
Der Name der bunten Truppe ist Programm. Es geht um ein Miteinander, um Integration, um das Gemeinsame. Generationsübergreifend. Undenkbar, das Alte oder Kinder ausgeschlossen wären. Niemand würde auch nur einen Gedanken daran verschwenden, Marias Oma auf eine Zuschauertribüne verbannen zu wollen. Mit 58 Jahren ist sie die betagteste Tänzerin und hat sichtlich Freude am gekonnten Hüftschwung. Spätestens hier wird klar, dass der Karneval in Uruguay kein Jahrmarkt der Eitelkeiten ist. Ganz anders als beim großen Bruder Brasilien. Alles ist hier ein paar Nummern kleiner, dafür irgendwie authentischer. Auch barbusige Tänzerinnen wären unvorstellbar am Río de la Plata, dem Silberfluss.
Als Maria und ihre Freunde wenig später trommelnd und tanzend durch die Straßen ihres Kiezes ziehen und von den Passanten lautstark angefeuert werden, verbreiten sie allumfassende Lebensfreude. Der Alltag und all seine Widrigkeiten sind heute vergessen. Der Umzug ist eigentlich nur ein bescheidenes Vorglühen für die große Karnevalsparade Desfile Inaugural. Bei der offiziellen Eröffnungsparade im Januar versetzen über 60 tanzende und musizierende Comparsas, die Karnevalsgruppen, Montevideo in einen Rausch - aus Farbe, Rhythmus und Lebensfreude. Die Nacht der Nächte ist für Candombe-Fans jedoch Anfang Februar. Und zwar beim großen Trommelspektakel, dem Desfile de Llamadas.

2000 Trommler, ringsum Tänzerinnen

Denn dann geht’s für die besten Candombe-Gruppen um eine der begehrtesten Kronen des uruguayischen Karnevals. Wem gebührt nun wirklich Ruhm und Ehre? 2000 kostümierte, von Tänzerinnen flankierte Trommler versetzen Montevideo dann in den karnevalistischen Ausnahmezustand. Verstärker braucht hier niemand in dieser Nacht, wenn die Hobbykünstler die Barrios Sur und Palermo unsicher machen. Die Lautstärke der Cuerdas ist genauso ohrenbetäubend wie mitreißend. Cuerda bezeichnet das Trio der drei verschiedenen Trommeln: Piano (groß), Repique (mittelgroß) und Chico (klein). Wobei selbst die kleine Chico immerhin noch 65 Zentimeter hoch ist.
Und überhaupt folgt der uruguayische Karneval genauen Regeln und Riten. Viele haben eine Geschichte. Die der Lubolos beispielsweise. Das sind weiße Uruguayer, die sich bei den Karnevalsumzügen bis heute pechschwarz schminken. Selbst nach Abschaffung der Sklaverei 1842 war es nämlich verpönt, sich an den »obskuren« Candombe-Partys der Afro-Uruguayer zu beteiligen. Da die aber viel mehr Spaß versprachen als die eigenen, malten sich so manche Weiße kurzerhand schwarz an und mischten sich unters Candombe-Volk.

Die Murgas übernehmen

Der Höhepunkt des mit über 50 Tagen längsten Karnevals der Welt war die Llamadas dann aber noch lange nicht. Denn nun übernehmen die Murgas die Regie. Das sind kleine, 17-köpfige Ensembles, bestehend aus 13 Sängern, drei Percussionisten und dem künstlerischen Leiter, der als eine Art Dirigent seine Mannen zu Höchstleistungen peitscht. Ihnen gehört der feucht-heiße Februar, sie sind die wahren Helden, die Superstars. Denn die satirischen Ensembles besingen auf humorvollste Art und Weise, wo dem Volk der Schuh am meisten drückt, welche Politiker die tiefsten Taschen haben und was alles sonst noch so verkehrt läuft im zweitkleinsten Land Südamerikas. Diese karnevalistische Kunstform schwappte mit spanischen Auswanderern zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Cádiz nach Uruguay und durchlief in über 100 Jahren zahlreiche Transformationen.
Manche Vorstellungen weichen von dem klassischen Konzept ab, erinnern mit ihren Büttenreden gar an den Kölner Karneval. Kein Wunder, zog es doch ab 1850 vermehrt auch Rheinländer an den Rio de la Plata.

Zwei Religionen: Karneval und Fußball

Aus dem ganzen Land sind die Freizeitmusiker jetzt mit Kind und Kegel angereist. Alles aus eigenen Mitteln gestemmt. Sie schlafen bei Freunden, in Turnhallen oder sonst wo. Die Murga La Clave aus dem Provinzstädtchen San Carlos schlafen in den Katakomben des legendären Estadio Centenario, des einzigen offiziellen Weltfußballmonuments. Ein Heiligtum für jeden Uruguayer. Denn das kleine Land kennt genau zwei Religionen: den Karneval und den Fußball.
Hier besiegte Uruguay 1930 den anderen großen Bruder, Argentinien, im ersten Endspiel der Geschichte der Fußballweltmeisterschaft 4:2 und wurde Weltmeister. »Wir sind uns dieser großen Ehre durchaus bewusst«, strahlt La-Clave-Chef Martin Sousa. »Das motiviert uns zusätzlich, übt aber auch einen echten Erfolgsdruck auf uns aus.« In der Tat ist die Konkurrenz hart. Die besten Ensembles, die sich in den Vorrunden qualifiziert hatten, treten nun Abend für Abend in der Hauptstadt gegeneinander an. »Es gilt, eine unerbittliche Jury, vor allem aber das Publikum, mit unserem quasi A-cappella-Gesang zu überzeugen.« Denn begleitet wird der kraftvolle Chorus lediglich von einem Becken, einer kleinen Parade- und einer großen Basstrommel.
Wie das geht, beweisen die Männer dann auch an diesem Abend per excellence. Sie rocken in einer einstündigen Performance das restlos ausverkaufte Teatro de Verano. Mit ihren clownesken Kostümen, viel Charme und Mutterwitz und einer gehörigen Portion Satire und vor allem aber durch einen absolut überwältigenden Chorgesang haben sie schließlich auch den müdesten Zuschauer von Hocker gerissen. Am Ende des Tages gehört La Clave eines der Sehnsuchtstickets fürs Finale am Donnerstag nach Aschermittwoch. Am Aschermittwoch ist alles vorbei? Nicht in Montevideo!
Für den Trommelhersteller Alvaro Rabasquiño bedeutet dieser Mittwoch jedoch das nahende Ende allen Müßiggangs. Denn schon sehr bald werden die ersten Candombe-Drummer ihre Bestellungen für die nächste Karnevalssaison aufgegeben. Und bis dahin vergeht die Zeit in keinem Land der Welt schneller als in Uruguay.
Die Recherche wurde unterstützt von Gateway und Geoplan.

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