Es wirkt, als würden die jüngsten Zahlen Donald Trump
recht geben: Die US-Grenzschutzbehörde meldet einen drastischen Anstieg
illegaler Einreisen aus Mexiko und spricht von einer humanitären Krise
und einer Krise der nationalen Sicherheit. Mehr als 76.000 Migrantinnen
und Migranten wurden allein im Februar aufgegriffen, doppelt so viele
wie ein Jahr zuvor, so viele wie in keinem Monat seit Oktober 2013. Also
scheinbar genau das, wovor der US-Präsident schon lange warnt: Wir
werden überrannt. Und Trumps Antwort auf die vermeintliche Gefahr ist
eine Mauer, deren Finanzierung ihm der Kongress politisch verwehrt und
deren Bau er nach einer fruchtlosen Haushaltsblockade inzwischen per
Notstandserklärung durchsetzen will.
Nur: Was an der Grenze zu Mexiko passiert, ist nicht die Art Problem, das sich einfach aussperren lässt. Es ist ein wenig wie 2015 in Deutschland: eher eine Behördenkrise als eine bösartige Invasion.
Zur Einordnung der Zahlen hilft zuerst eine Perspektive, die über die vergangenen Monate hinausgeht. Langfristig gesehen sind die illegalen Grenzübertritte immer noch auf einem eher niedrigen Niveau. Wie viele Menschen wirklich illegal einreisen, lässt sich kaum sicher sagen. Experten gehen aber davon aus, dass etwa die Hälfte in Gewahrsam genommen wird, und deren Zahl wird zumindest erfasst.
Jährlich kommen seit einigen Jahren grob 400.000 bis 500.000 Migranten illegal zwischen den Grenzübergängen in die USA und werden festgenommen. Für das Haushaltsjahr 2017 weist die offizielle Statistik 303.916 Festnahmen aus, im Haushaltsjahr 2018 (bis September) stieg die Zahl auf 396.579. Im Rekordjahr 2000 wurden mehr als 1,6 Millionen Menschen festgenommen, nachdem sie illegal über die Grenze gekommen waren, 2005 waren es noch fast 1,2 Millionen.
Interessant ist auch das durchschnittliche monatliche Aufkommen unter verschiedenen Präsidenten, wie es die New York Times
für ihre aktuelle Berichterstattung ausgerechnet hat: Demnach wurden
unter George W. Bush im Schnitt 81.588 Migrantinnen und Migranten
monatlich aufgegriffen, unter Barack Obama monatlich 34.647 und unter
Trump 32.012. Den kurzfristigen Anstieg der Festnahmen seit Trumps
Amtsantritt schreiben viele Beobachter dabei auch der
Null-Toleranz-Politik seiner Regierung zu.
Um die heutige Lage an der Grenze zu
verstehen, ist aber nicht nur die Zahl der Ankommenden wichtig. Es geht
auch darum, wer die Menschen sind und aus welchen Gründen sie den Weg
der illegalen Einreise gehen. In den Neunziger- und Nullerjahren waren
es überwiegend mexikanische Männer, die ohne Papiere in die USA kamen,
um dort zu arbeiten und so ihre Familien zu Hause zu unterstützen.
Wurden sie festgenommen, wurden sie in der Regel nach einem kurzen
Aufenthalt abgeschoben. Inzwischen kommen weniger Mexikaner, oft sind es
die Familien, die den Männern nachfolgen, aber viele gehen auch wieder
zurück.
Flucht vor Armut und Gewalt
Ein
großer Teil der illegal Einreisenden kommt inzwischen aus
mittelamerikanischen Ländern, etwa Guatemala, El Salvador oder Honduras.
Sie fliehen vor Gewalt und Armut in ihrer Heimat und machen sich meist
im Familienverbund auf den Weg. Im aktuellen Haushaltsjahr seit Oktober
nahmen die Grenzbehörden bereits 136.150 Familienmitglieder fest, deren
Gruppe mindestens aus einem Elternteil und einem Kind bestand, im
gesamten vorigen Haushaltsjahr 107.212. Fünf Jahre früher waren es noch
14.800. Der aktuelle Trend hat schon unter Obama begonnen.
Entscheidend ist ein
Unterschied zur früheren Arbeitsmigration aus Mexiko: Die Menschen, die
heute ankommen, selbst wenn sie zwischen den Grenzübergängen ins Land
gelangen, stellen sich in aller Regel freiwillig den Grenzschützern –
ihr Ziel ist Asyl, die Anerkennungsquote lag in den vergangenen Jahren
allerdings bei weniger als 20 Prozent. Problematisch ist auch die große
Zahl Minderjähriger ohne Begleitung aus Mittelamerika. Die Gesetzeslage
verhindert ihre schnelle Abschiebung und begrenzt, wie lange Kinder und
Familien festgehalten werden dürfen. Zumindest die vielfach kritisierte
Praxis der Trump-Regierung, Kinder von ihren Begleitern zu trennen,
wurde aber inzwischen eingestellt.
Generell gibt es zu
wenige Unterkünfte, insbesondere für Kinder und Familien geeignete
Auffangeinrichtungen. Mängel in der Betreuung und Versorgung wurden auch
deutlich, als im Dezember zwei Kinder und im Februar ein 45-jähriger
Mexikaner im Gewahrsam der Behörden starben. Die Überfüllung der
Einrichtungen führt zusammen mit den Beschränkungen für Familien und
Minderjährige außerdem dazu, dass viele der Asylsuchenden aus der Obhut
der Behörden entlassen werden, während ihr Verfahren noch läuft. Erst
wenn ihre Anträge abgelehnt werden, können sie abgeschoben werden – doch
viele melden sich nicht mehr zurück, um dennoch im Land bleiben zu
können. Die US-Behörden sind deshalb teilweise dazu übergegangen,
Asylsuchende zurück nach Mexiko zu schicken, wo sie auf die Entscheidung
warten sollen.
Ein System "an der Grenze der Belastbarkeit"
Die
Grenzschutzbehörde räumte die Überforderung aus Anlass der aktuellen
Zahlen durchaus ein, das System sei "an der Grenze der Belastbarkeit".
Eine bessere medizinische Versorgung ist Teil ihrer Bemühungen, der
Realität der Migration an der Grenze zu Mexiko gerecht zu werden. In der
Grenzstadt El Paso soll ein neues Zentrum die Bedürfnisse von Familien
und Kindern angemessen berücksichtigen. Von zusätzlich benötigten
"humanitären Ressourcen" ist die Rede, von der Zusammenarbeit mit
Nichtregierungsorganisationen, die Migranten bei allen nötigen Prozessen
begleiten, von mehr Übersetzern – "temporäre Lösungen", die akut eine
Hilfe seien, aber eben nicht nachhaltig, hieß es von der Behörde.
Einen Notstand an der mexikanischen
Grenze gibt es also in der Tat. Nur dürfte eben der Bau einer Mauer
weiterhin nicht die eiligste erforderliche Maßnahme sein, selbst wenn
ein paar zusätzliche Befestigungen hier und da vielleicht sogar sinnvoll
wären – gegen einen noch einmal verbesserten Grenzschutz gibt es im
Grunde parteiübergreifend kaum Widerspruch. Und dass die Lage im
Südwesten einer Krise gleichkommt, ist nicht zu leugnen. Sie erfordert
schnelles Handeln. Aber Trump sieht in der jüngeren Entwicklung nur ein
schlagkräftiges Argument für seinen Mauerplan – die symbolische
Bedeutung des Projekts für seine Basis scheint ihm wichtiger als die
Menschen hinter der Statistik.
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