Uruguay
produziert selten Schlagzeilen. Und die jüdische Gemeinde schon gar
nicht. Wohl auch, weil es vielen Menschen in Uruguay gut geht. Ist das
einer der Gründe, warum uruguayische Juden nicht besonders religiös
sind, dafür aber sehr traditionsbewusst?
- Stadtansicht – Plaza Independencia in Uruguays Hauptstadt Montevideo. (Deutschlandradio / Victoria Eglau)
Von Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland gegründet
Die NCI, auf Deutsch Neue Israelitische Kongregation, ist eine der größten jüdischen Gemeinden Uruguays. Deutschsprachige Einwanderer haben die Gemeinde in den 1930er Jahren gegründet. Sie waren der nationalsozialistischen Verfolgung entkommen. Das kleine südamerikanische Land östlich von Argentinien nahm sie auf.Daniel Dolinsky, der Rabbiner der NCI, erzählt von den Anfängen:
„Für die deutschen Juden, die diese Gemeinde gegründet haben, hatten Wissen und Kultur einen hohen Stellenwert. Auch humanistische Werte waren ihnen wichtig. Ihnen war klar, welches Leid den Juden von den Nazis zugefügt worden war. Die Gemeinde in Uruguay hat die Exilanten mit viel Liebe aufgenommen.“
Einige Immigranten retteten Thora-Rollen aus den Synagogen, die sie zurücklassen mussten – im Thora-Schrein der Nueva Congregación Israelita werden sie bis heute gehütet.
Gottesdienst-Raum der NCI-Gemeinde mit Thora-Rollen, zum Teil von Immigranten aus Deutschland mitgebracht. (Deutschlandradio / Victoria Eglau)
Mit der Zeit hat sich die NCI gewandelt: In den ersten Jahrzehnten predigten die Rabbiner auf Deutsch, doch in den 1970er Jahren setzte sich Spanisch durch, die Landessprache Uruguays. Die Gemeinde öffnete sich und zog auch andere Juden an, viele von ihnen mit osteuropäischen Wurzeln.
Im Masorti-Judentum sind Männer und Frauen gleichberechtigt
Ende der siebziger Jahre veränderte die NCI sich auch in religiöser Hinsicht: Sie verabschiedete sich vom orthodoxen Ritus, der unter anderem die Trennung von Männern und Frauen während des Gottesdienstes vorsieht. Die Gemeinde schloss sich der konservativen Masorti-Bewegung an. Rabbiner Daniel Dolinsky:„Die Entscheidung für das konservative Judentum bescherte unserer Gemeinde großen Zulauf: Menschen, denen die jüdischen Werte wichtiger waren als die Rituale. Im Masorti-Judentum sind Männer und Frauen gleichberechtigt. Frauen dürfen die Thora lesen, was in der Orthodoxie unmöglich wäre. Unsere Herausforderung in dieser Gemeinde ist, die Bewahrung der Tradition und die konstante Veränderung, die das Leben mit sich bringt, zu vereinen.“
In Uruguay ist die konservative NCI heute die liberalste aller Synagogen – die anderen fünf Gemeinden sind orthodox ausgerichtet, eine Reformsynagoge gibt es nicht.
Zunächst waren Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sephardische Juden aus dem damaligen Osmanischen Reich in das südamerikanische Land eingewandert. Infolge der späteren Zuwanderung aus Osteuropa und Deutschland stieg die Zahl der Juden stark an – auf 40.000 bis 50.000 in den 1960er Jahren.
Die jüdische Gemeinschaft Uruguays ist die fünftgrößte Lateinamerikas, nach Argentinien, Brasilien, Mexiko und Chile. Aber sie ist in den vergangenen Jahrzehnten geschrumpft und hat heute nur noch rund 15.000 Mitglieder, etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung Uruguays. Der Soziologe Rafael Porzecanski erklärt, warum:
„Nicht aufgrund von Assimilierung, sondern in erster Linie wegen der Auswanderung. Vor allem während Uruguays Wirtschaftskrisen sind viele Juden nach Israel emigriert, aber auch in andere Länder wie Argentinien oder Spanien. Die jüdische Gemeinschaft Uruguays zeichnet aus, dass sie ausgesprochen zionistisch ist und sich dem Staat Israel eng verbunden fühlt. Was nicht heißt, dass alle mit der derzeitigen israelischen Regierung einverstanden sind.“
Laizistisch, aber zugleich traditionsbewusst
Rafael Porzecanski ist Verfasser eines Buchs mit dem Titel „El Uruguay Judío“ – Das jüdische Uruguay. Darin beschreibt er das Milieu, in dem er selbst aufgewachsen ist und das von einem starken Zugehörigkeitsgefühl geprägt ist: Zwei Drittel der uruguayischen Juden haben eine Bindung an jüdische Gemeinden oder Organisationen – das muss aber nicht heißen, dass sie religiös sind.Der Soziologe Rafael Porzecanski. (Deutschlandradio / Victoria Eglau)
„Wir Juden werden im Allgemeinen von den Gesellschaften geprägt, in denen wir leben. So wie in Uruguay viele Katholiken ihren Glauben nicht praktizieren, tun das auch viele Juden nicht. Sie sind laizistisch, aber zugleich traditionsbewusst. Aus diesem Traditionsbewusstsein heraus feiern die meisten Familien die jüdischen Feste. Ich zum Beispiel bin ein typischer Vertreter dieser Gruppe: Ich identifiziere mich als Jude, meine ganze Familie ist jüdisch – und auch meine Lebensgefährtin. Ich feiere die Feste, aber esse nicht koscher und gehe am Schabbat nicht in die Synagoge.“
Nachmittags in der Neuen Israelitischen Kongregation – eine Feier, ausgerichtet von der Tzedaká. Tzedaká ist eine gemeinnützige Stiftung, die immer dann zur Stelle ist, wenn Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft Hilfe brauchen.
Als Uruguay 2002 eine schwere Wirtschaftskrise erlebte, unterstützte die Stiftung zahlreiche Familien. Tzedaká kümmert sich auch um alte Leute. An diesem Nachmittag hat sie Menschen eingeladen, die in Europa geboren wurden und der Shoa entkommen sind. Es gibt süße und salzige Häppchen, Kaffee und Tee, und eine Band spielt jüdische Melodien und Tango.
Muttersprache Deutsch
An den festlich gedeckten Tischen wird Spanisch gesprochen, aber einige Gäste, sobald sie merken, dass sie es mit einer deutschen Journalistin zu tun haben, wechseln sofort ins Deutsche. Helmut Simson ist 88 Jahre alt und lebte bis zu seinem zehnten Lebensjahr in Berlin.„Berlin Schöneberg, Badensche Str. 44. 1938 sind wir ausgewandert, erst nach Belgien, dann nach Frankreich, und von Frankreich mit einem Schiff das hieß Belle Ile. Wir wollten nach Rio, aber da gab‘s keinen Eintritt, also Montevideo. Mein Vater, meine Mutter sagte: Aber Arthur, Du weißt doch, das Lied: ‚Montevideo ist keine Stadt für meinen Leo‘. Aber trotzdem: Montevideo. Und dann haben wir die Staatsbürgerschaft bekommen. Heute habe ich zwei: die deutsche und die uruguayische.“
Helmut Simson, jüdischer Immigrant aus Berlin, mit seiner Frau Martha. (Deutschlandradio / Victoria Eglau)
Für Helmut Simson ist das Land, das ihn und seine Familie aufgenommen hat, Heimat geworden. Aber er ist mehrfach nach Berlin zurückgekehrt und fühlt sich der deutschen Sprache und Kultur bis heute verbunden.
Muttersprache ist das Deutsche auch für Rafael Winter, den Sohn des langjährigen Rabbiners der Gemeinde. Fritz Winter hatte in Berlin unter anderem bei Leo Baeck studiert. Nach der Flucht aus Nazi-Deutschland war er einer der Gründer der jüdischen Gemeinde in Bolivien und übernahm 1950 die Rabbiner-Stelle in Montevideo, erzählt Rafael Winter:
„Man hat ihn akzeptiert und er ist gekommen nach Uruguay am 1. August 1950. War eine ganz andere Zeit, ne. Uruguay um die Zeit hat man genannt ‚Die Schweiz von Amerika‘. Demokratie, ein Land, wo war eine gute Mittelklasse, war eine ganz andere Zeit. Mein Vater war Rabbiner von der NCI 34 Jahre.“
Rafael, sein Sohn, geboren in Montevideo, hat heute nur noch selten Gelegenheit, Deutsch zu sprechen. In Uruguay und Israel hat er die Universität besucht, ist Historiker und Judaistik-Dozent geworden.
Winter unterrichtet an jüdischen Schulen sowie an der Universidad ORT, der größten Privat-Uni Uruguays – und er bereitet Jungen und Mädchen in mehreren Gemeinden auf die Bar und Bat Mitzwa vor:
„Heutzutage kommen mehr Leute in die Synagogen als vor zwanzig, dreißig Jahren. Zwar ist die Zahl der Juden in Uruguay zurückgegangen, aber der Anteil derer, die sich der Religion zuwenden, ist in jüngster Zeit gewachsen – und darunter sind viele junge Leute.“
Jüdische Kultur und Traditionen stärker als Religiosität
Dennoch, das Selbstverständnis der meisten uruguayischen Juden basiert nach wie vor stärker auf jüdischer Kultur und den Traditionen als auf praktizierter Religiosität.Selbst in den Synagogen, die von orthodoxen Rabbinern geleitet werden, sind die meisten Gemeindemitglieder selbst nicht orthodox. Rafael Winter erklärt den Widerspruch:
„Im Allgemeinen haben die Orthodoxen, obwohl sie eine Minderheit sind, das meiste Gewicht in den jüdischen Gemeinschaften. Das ist in Uruguay so, aber auch anderswo. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass die Orthodoxen besonders überzeugt sind vom jüdischen Glauben – und damit andere besser überzeugen können. Hinzu kommt, dass viele Juden, die selbst absolut nicht orthodox sind, in den Orthodoxen die Bewahrer des Judentums sehen. Manche Gemeinden wollen, gerade weil sie nicht orthodox sind, einen orthodoxen Rabbiner.“
Früher befanden sich alle Synagogen im Stadtzentrum von Montevideo, doch nach und nach sind ihre Gemeindemitglieder in bürgerliche Wohnbezirke gezogen. Die Synagogen folgten ihnen. Heute ist die Comunidad Israelita del Uruguay Kehilá die einzige Innenstadt-Synagoge.
Die Synagoge der Israelitischen Gemeinde Kehilá in Montevideo, Uruguay (Deutschlandradio / Victoria Eglau)
„Ich heiße Max Godet und bin Hauptrabbiner der Israelitischen Gemeinde Kehilá. Ich bin Brasilianer und meine Frau ist Uruguayerin.“
Dass der orthodoxe Rabbiner aus dem Ausland stammt, ist nicht ungewöhnlich in Uruguay – das Land hat kein eigenes Rabbiner-Seminar.
Viele Sozialeinrichtungen
Mit der Kehilá leitet Max Godet eine altehrwürdige jüdische Institution: Vor mehr als hundert Jahren, 1916, war sie von Einwanderern aus Osteuropa gegründet worden. Rabbiner Max Godet:„Die Kehilá trägt bis heute die Verantwortung für den Israelitischen Friedhof von Uruguay und für die jüdischen Totenrituale. Wir überwachen auch die Herstellung koscherer Lebensmittel. Dafür bin ich zuständig, und wir beschäftigen mehrere Inspektoren. Auch ist die Kehilá verantwortlich für Konvertiten, die Juden werden wollen, sowie für Ehescheidungen. Und wir führen ein Heiratsregister.“
Max Godet, Rabbiner der Israelitischen Gemeinde Kehilá in Montevideo (Deutschlandradio / Victoria Eglau)
Der junge brasilianische Rabbiner ist erst seit eineinhalb Jahren in Uruguay, aber Max Godet bestätigt: Die Religion steht bei vielen Juden des Landes nicht an erster Stelle:
„In Uruguay ist das Judentum in religiöser Hinsicht nicht so lebendig wie in Mexiko, Panama, im brasilianischen São Paulo oder im argentinischen Buenos Aires. Ich kenne aber keine jüdische Gemeinschaft, die so viele Sozialeinrichtungen hat wie die uruguayische: etwa Jugend-Gruppen oder Einrichtungen für ältere Menschen. Den Juden in Uruguay sind ihre Wurzeln wichtig. Es geht um jüdische Identität.“
Auch in der Kehilá gibt es einen Sozialdienst, Behinderten-Werkstätten und eine Jobbörse, an die sich auch nichtjüdische Uruguayer wenden können.
Vorurteile und Unwissenheit
Juden in Uruguay sind eine kleine Minderheit und bemühen sich um ein gutes Verhältnis zur mehrheitlich katholischen Gesellschaft. Rabbiner Max Godet:„Im Allgemeinen ist die Beziehung gut. Nur wenige Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft würden sagen, dass sie schon einmal Judenhass erlebt haben. Ich als Rabbiner bin aber mit meiner Kippa leicht als Jude zu erkennen – und ich bin schon öfter schlecht behandelt worden. Das schreibe ich eher einer verbreiteten Unwissenheit über das Judentum zu – ich würde nicht von einem großen Antisemitismus-Problem sprechen. Es gibt Vorurteile: So bin ich mehrfach gefragt worden, was ich eigentlich in diesem Land mache – und nicht nur ich, sondern auch meine Frau, die Uruguayerin ist.“
Vorurteile und Unwissenheit hat auch Michelle Geisinger schon erlebt. Die 22jährige stammt aus einer uruguayisch-jüdischen Familie und studiert an der Katholischen Universität von Montevideo Pädagogische Psychologie. Dort fühlt sie sich wie eine Botschafterin des Judentums:
„Ich bin in einem komplett jüdischen Umfeld aufgewachsen: Ich war auf jüdischen Schulen, meine ganze Familie ist jüdisch, ich ging in die Synagoge, ich kannte quasi keine Nicht-Juden. Bis ich auf die Uni gekommen bin. Mit zwanzig Jahren hatte ich zum ersten Mal nichtjüdische Freundinnen! Und seitdem mache ich die Erfahrung, erklären zu müssen, was das jüdische Volk ist, unsere Religion, unsere Gebräuche. Aber ich finde das schön. Ich habe meine Freundinnen schon öfter zu jüdischen Festen eingeladen, und sie mich zu Weihnachten – wir machen eine Art interkulturellen Austausch.“
Studentin Michelle Geisinger mit Paula, der Frau des Rabbiners der NCI-Gemeinde. (Deutschlandradio / Victoria Eglau)
Trotz dieser neuen Freundschaften – für die Studentin steht fest, dass sie einmal mit einem jüdischen Mann eine Familie gründen will. Dass Michelle und andere junge Leute ein solch starkes Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer Gemeinschaft haben, hängt stark damit zusammen, dass die meisten von ihnen in jüdischen Jugendorganisationen groß geworden sind.
„Wir haben sieben Jugendbewegungen. Und 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen machen mit. Das zeichnet die jüdische Gemeinschaft von Uruguay aus! Ich war in einer dieser Jugendorganisationen – und wenn ich später Kinder habe, werde ich auch sie anmelden. Einige Gruppen sind politisch eher rechts, andere eher links, aber das ist zweitrangig – wichtig ist, sich in einer der Bewegungen zu engagieren. Denn es trägt dazu bei, zu verhindern, dass unsere Minderheit in der Gesellschaft aufgeht. In den Jugendorganisationen wird früher oder später diskutiert, ob wir uruguayische Juden oder jüdische Uruguayer sind. Ich habe mich das immer gefragt und würde heute sagen: Ich bin uruguayische Jüdin“, sagt Michelle Geisinger.
„Juden und Uruguayer – wir sind beides“
Zurück in der NCI, der Gemeinde Nueva Congregación Israelita. Jeden Freitagabend hilft Michelle Geisinger hier beim Kindergottesdienst – parallel zur Schabbat-Feier der Erwachsenen. Einige Kinder kommen auch schon vor dem Kabbalat Schabbat in die Synagoge, um die sogenannte Traditionsschule zu besuchen. Gemeindedirektor David Tellias:„In Uruguay gibt es zwei jüdische Gymnasien, aber viele jüdische Kinder gehen auf andere, nicht-religiöse Schulen. Das heißt, unsere Traditionsschule schließt eine Lücke. Einmal in der Woche können Kinder von vier bis elf hier etwas übers Judentum lernen: den jüdischen Kalender, ein bisschen Hebräisch, die jüdische Kultur, die Religion und den Zionismus.“
Rund tausend Familien zahlen jeden Monat ihren Mitgliedsbeitrag in der NCI. Einige hundert Menschen kommen freitags und samstags in die Synagoge, viel mehr sind es an den jüdischen Feiertagen, vor allem zum Neujahrsfest Rosch Haschana und am Versöhnungstag Jom Kippur.
„Eine große Herausforderung für uns: Die Gemeinde darf von ihren Mitgliedern nicht nur als ein Ort betrachtet wird, der Dienstleistungen anbietet. Es geht darum, ein Judentum zu praktizieren, das im Einklang steht mit den Bedürfnissen des Einzelnen und seiner Familie sowie mit dem gesamten Lebensentwurf.“
… hofft Daniel Dolinsky, der Rabbiner der Neuen Israelitischen Kongregation.
Zu Beginn des Kabbalat Schabbat läuft Rafael Winter, der Sohn des langjährigen Rabbiners Fritz Winter, durch die Stuhlreihen und begrüßt Freunde und Bekannte. Die NCI ist die Gemeinde, in der Rafael Winter groß geworden ist. Auch wenn seine familiären Wurzeln in Deutschland liegen und er sein Studium zum Teil in Israel absolviert hat – sein Land ist Uruguay:
„Zwar versucht unsere jüdische Gemeinschaft, ihre Identität zu pflegen und zu bewahren, aber sie ist zugleich zutiefst in die uruguayische Gesellschaft integriert. Juden und Uruguayer – wir sind nicht das eine oder das andere, wir sind beides.“
Deutschlandfunk
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