In Salzbergs Lederwarengeschäft ist die Geschichte der eingewanderten deutschen Juden präsent
26.07.2018 – von Marko Martin
Montevideo,
das ist Ruhe und Verzögerung und Stille – mag der Verkehr auf der
Avenida 18 de Julio, der von Art-Déco-Gebäuden, spätkolonialen
Stadtpalästen und 60er-Jahre-Architektur gesäumten Prachtstraße, in
manchen Stunden auch noch so rasant sein.
Jetzt aber liegt
Wochenendstille über der Hauptstadt des
Dreieinhalb-Millionen-Einwohner-Landes Uruguay, das zwischen 1933 und
1944 mehr als 10.000 deutschsprachigen jüdischen Flüchtlingen seine
Türen öffnete.
Wer am Hafen von Buenos Aires zurückgewiesen
wurde, fand hier, auf der anderen Seite des Rio de la Plata, Zuflucht.
Heute wirbt Uruguay mit dem Spruch um Touristen, das »bessere
Argentinien« zu sein. Das ist keine Übertreibung, denn seit Jahrzehnten –
mit Ausnahme der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 – gilt das stabile,
mittelständisch geprägte Land als eine Art »Schweiz Lateinamerikas«.
Über
die Geschichte der hierher geflüchteten deutschsprachigen Juden – eine
sefardische Gemeinde existierte bereits zuvor – gibt es ein lesenswertes
Buch der Historikerin Sonja Wegner: Zuflucht in einem fremden Land aus
dem Jahr 2013.
Die meisten Nachkommen der einstigen Flüchtlinge
sprechen nur noch Spanisch. Die an den Kiosken aushängende Wochenzeitung
»Semanario Hebreo« hat nichts mit dem Gemeindeblatt von einst zu tun,
seit mehr als 20 Jahren gibt es keine deutschsprachige Radiosendung
mehr, und auch die Erinnerung an die vielfältigen kulturellen
Aktivitäten und Theateraufführungen wäre verweht, gäbe es nicht diese
verdienstvolle Studie.
spuren Und
dennoch: Wer heute mit offenen Augen durch Montevideo streift –
Assoziationen und Zufällen vertrauend, wie sie auch die Romane von Juan
Carlos Onetti, dem »uruguayischen Borges«, bevölkern –, findet Spuren.
Und das, obwohl in den vergangenen Jahrzehnten viele Juden nach Israel
und in die USA ausgewandert sind und die jüdische Gemeinde heute nur
noch rund 16.000 Menschen zählt.
Im Hafenviertel von Montevideo
etwa gibt es hinter einer unscheinbaren Tür mit der Mesusa den Sportclub
»Hebraica Macabi«, der samstags freilich nur für »los otros«, die
anderen, geöffnet ist. Namensschilder kleiner Läden verweisen auf
jüdische Inhaber, und in der Calle Buenos Aires steht eine
eindrucksvolle Synagoge.
»Das ist die für die Türken«, sagt Sami
Salzberg in tadellosem Deutsch. Er wendet die lateinamerika-typische
Sammelbezeichnung »Turcos« für eingewanderte Araber auch auf die
Sefarden an. Salzberg selbst wurde in Uruguay geboren. Er ist Nachkomme
von Moritz Salzberg, der 1938 aus Wien flüchten musste und am 8. Januar
1939 in Montevideo ankam. Seither sind die Salzbergs im Ledergeschäft
tätig.
Es ist Zufall, dass der Besucher auf das Schild »Leather
Factory« aufmerksam geworden war, das in einer Ecke unter den Kolonnaden
rechts der Plaza Independencia hängt. Eine schmale, knarrende Treppe
führt in den ersten Stock hinauf. Dort liegen fein gefertigte Jacken und
Westen in Regalen und auf Tischen. An der Wand hängt Moritz Salzbergs
1932 in Wien ausgestellter Meisterbrief.
»Da staunen Sie, was?«,
sagt Salzbergs Mitarbeiterin Inge Silbermann, ebenfalls auf Deutsch.
Sie erzählt von ihren Eltern, denen es 1937 gelang, aus Berlin hierher
nach Montevideo zu entkommen. Da man der munteren, herzlichen Dame nie
und nimmer ihr Alter von 81 Jahren abnehmen würde, sagt sie, ins Du
wechselnd: »Komm morgen wieder, dann zeige ich dir die Pässe meiner
Eltern.«
pässe Am nächsten Tag
bedienen Sami Salzberg und seine Frau Miriam ein paar amerikanische
Kreuzfahrttouristen, schauen jedoch immer wieder zum Tisch, an dem
Señora Inge Platz genommen hat, vor sich zwei zerfledderte Pässe, Fotos
und ein Bündel Karten.
»Sami und Miriam wissen, was jetzt
kommt«, sagt Frau Silbermann, »aber du hast so etwas vermutlich noch
nicht gesehen.« Ja, zumindest nicht in dieser Form. Denn es ist etwas
ganz anderes, diese vergilbten Papiere in den Händen zu halten, als sie
in Fernsehdokus zu sehen, womöglich untermalt mit Schumann- oder
Satie-Stücken.
Frau Silbermanns Daumen fährt über das Passbild
ihres Vaters, das einen gutaussehenden Mann mit weißem Hemd, dunkler
Krawatte und pomadisiertem schwarzen Haar zeigt.
»Na?«, fragt sie
und lächelt. »Sieht aus wie Rudolph Valentino«, sagt der Besucher. Frau
Silbermann nickt und sagt: »Genau! Außerdem war er in seiner Freizeit
Boxer. Sieh mal hier«: Bernhard Silbermann in schwarzem Boxerhemd beim
Training an Bord des Flüchtlingsschiffs, die Linke ausgestreckt, die
Rechte in Verteidigungshaltung vor der Brust – im Hintergrund der
Atlantik.
»Hier in Montevideo hat er dann einem uruguayischen
Boxer als Trainer geholfen, ehrenamtlich, obwohl wir in den ersten
Jahren am Existenzminimum waren und Vater unten an der Plaza
Independencia Kämme verkaufen musste. Und Mutter war Putzfrau. Sie war
auf der Überfahrt nach Montevideo bereits schwanger mit mir. Ihr ganzes
Leben lang hat sie sich abgerackert.«
schufterei Und
die anderen Bilder, die die Mutter und den Vater mit einem kleinen
Jungen zeigen? »Mein Brüderchen, das bald darauf an Diabetes gestorben
ist. Aber auch Vater wurde nicht alt, die ganze Schufterei hier hat ihm
so zugesetzt, dass er bereits mit 53 Jahren starb. Auch das gehört zur
Exilgeschichte, jenseits der Erfolgsstorys.«
Und dann ist da
noch dies: die aufbewahrten Karten, die die Großeltern aus Berlin
schickten, von der Weißenburger Straße 37 in Spandau nach Montevideo,
Calle Alzaibar, mit der Schreibmaschine getippt.
Sommer 1940. Die beiden müssen ihren Vornamen längst »Israel« und »Sara« hinzufügen, ihr Geschäft ist »arisiert«.
Ȇber
Eure Zeilen haben wir uns sehr gefreut, wir sind sonst gottlob gesund.
Wir müssen den Kopf hochbehalten, denn für uns kommt bestimmt auch
einmal eine Wende.«
Eine andere Karte berichtet vom »kleinen
Kaffeetisch mit Frau Hirsch«, und wieder sind es liebevolle Zeilen, die
in ihrer zivilen Prägnanz früher wohl als gesittet bezeichnet worden
wären – zu einer Zeit, als undenkbar schien, dass das von den Cohns so
geliebte Deutschland je zu einer Todesfalle werden könnte.
Spanisch
»Danach gab es keine Karten mehr. Und dann auch keine Eltern mehr,
weder für meine Mutter noch für meinen Vater«, sagt Frau Silbermann
leise, legt die Hand auf den Arm des Besuchers und steht abrupt auf, um
auf Spanisch neue Kunden zu begrüßen, nun wieder mit einem Lächeln im
Gesicht.
»Wenn du möchtest, schreib die Geschichte auf«, sagt
Inge Silbermann zum Abschied. »Denn sogar meine Enkelin weiß nichts
davon. Sie lebt in Santiago de Chile, macht Partyfotos in diesen neuen
Digitalmedien, ist eine sehr fröhliche und aufgeweckte junge Frau – aber
ich will sie nicht mit all dem belasten. Und dennoch ...«
Señora
Silbermann umarmt den Gast, Miriam und Sami Salzberg beißen sich auf
die Lippen, finden aber ebenfalls ihr Lächeln wieder, machen sich an
einem Sortiment von Ledertäschchen zu schaffen und sagen – auf Deutsch,
an diesem Mittag in Montevideo/Uruguay: »Ja, vielleicht ist das eine
gute Idee.«
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