Hutterer leben in Isolation – was wir von ihnen über Glück lernen können
Amanda Dubermann
HuffPost Deutschland
Die Fotografin Jill Brody hat einen seltenen Einblick in das Leben der Hutterer bekommen, die zurückgezogen in Montana leben
Nach nur einem Tag bei den Hutterern in Liberty County im US-Bundesstaat Montana war Jill Brody “süchtig”.
Die
Pädagogin und Fotografin stieß auf die zurückgezogen lebende
ethnisch-religiöse Gruppe, als sie an einem Buch über das Ranch-Leben im Herzen von Montana arbeitete.
Einheimische rieten ihr, wenn sie sehen wolle, wie gute Landwirtschaft
funktioniere, solle sie die Hutterer besuchen.
Die Reise sollte Brodys Einstellung zum Leben für immer verändern und sie zu einer Fotoserie mit dem Titel “Hidden in Plain Sight“ inspirieren.
Es ist ein mehrdeutiger Titel. Er kann bedeuten, dass da jemand in aller Öffentlichkeit, aber doch zurückgezogen lebt. Oder dass da jemand nahezu versteckt lebt, aber eine breite Sicht hat.
Schon bevor sie zu den Hutterern kam, war Brody Menschen aus abgelegenen ländlichen Gegenden begegnet.
“Das waren beeindruckende Menschen”
In
jungen Jahren hatte die New Yorkerin in North Carolina an einem
Sommercamp teilgenommen. “Da waren all diese netten jüdischen Kinder aus
New York“, erinnert sie sich.
“Die
meisten Betreuer kamen aus dem tiefen Süden.“ Viele von ihnen hatten
keine gute Ausbildung, weshalb sie und ihre jugendlichen Freunde ihnen
mangelnde Intelligenz unterstellten.
Mit
zunehmendem Alter und Erfahrung erkannte Brody, dass sie die Menschen
mit ihrer Lebenserfahrung und Findigkeit, die das Landleben forderte,
falsch eingeschätzt hatte. “Das waren beeindruckende Menschen”, sagte
sie.
Jahrzehnte später lebte und arbeitete sie mit anderen erstaunlichen Menschen in einer der abgelegensten Gegenden Amerikas.
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Die Hutterer stammen aus Österreich und Mähren...
Die Hutterer sind eine sogenannte täuferische Kirche.
Es sind Christen, die glauben, dass Menschen nicht als Säuglinge
getauft werden sollten, sondern erst, wenn sie alt genug sind, um ihre
Sünden zu bekennen, und sich bewusst für die Taufe entscheiden.
40.000 Hutterer leben in den USA und Kanada
Sie wurden während der Reformation in Österreich verfolgt und flohen.
Schließlich landeten sie in den Great Plains in Nordamerika. Nach Angaben von “National Geographic“ lebten 2012 in den USA und Kanada rund 40.000 Hutterer in 480 Kolonien. Mehr zum Thema: Ich habe in einem Hippie-Dorf gelebt – es war wahnsinnig konservativ
Die religiöse Gemeinschaft ist nach dem Anführer des Tiroler
Täufertums, Jakob Hutter, benannt. Er predigte im 16. Jahrhundert die
Grundsätze des Pazifismus und des Zusammenlebens.
Fast alles Eigentum in einer hutterschen Kolonie gehört der Gemeinschaft – das unterscheidet sie von anderen ländlichen Religionsgemeinschaften wie den Amish und den Mennoniten.
Ihr zentraler Glaubenssatz leitet sich aus einem Vers im Neuen
Testament ab. In Apostelgeschichte 2,44 heißt es: “Alle Gläubigen aber
waren beisammen und hatten alles gemeinsam.”
Fast alles gehört der Gemeinschaft
Im Gegensatz zu den Amish nutzen die Hutterer moderne Technologien.
Sie betreiben industrielle Landwirtschaft und verkaufen
Tiefkühlfleisch, Hühnerfleisch, Eier, Milch und Gemüse an große
Lebensmittelketten vor Ort. Der Gewinn kommt der Gemeinschaft zugute.
Einige arbeiten auch im Baugewerbe oder als Mechaniker. Ein Hutterer könnte dir einen Mercedes bauen, sagt Brody.
Und weil jede Hutterer Frau zur Hochzeit eine Nähmaschine bekommt – den einzigen Gegenstand, den sie je besitzen wird – “könnte jede von ihnen als Näherin in Hollywood anheuern”.
Menschen, wie aus der Zeit gefallen
Als Brody für ihr Viehzüchter-Buch recherchierte, schenkte sie den
Hutterern zunächst wenig Beachtung. “Sie waren für mich schlicht
anachronistische Menschen, die bunte Kleidung trugen und mit einem
komischen deutschen Akzent sprachen”, sagte sie. “Sie waren freundlich, aber distanziert.”
Trotzdem nahm sie das Angebot an, die Hutterer einmal zu besuchen.
Sie wusste, dass die Gemeinden sehr isoliert leben, patriarchalisch
strukturiert sind und von strengen religiösen Grundsätzen geleitet
werden.
Brody selbst ist nicht religiös. Sie hat daher nicht erwartet, sich wohl zu fühlen, sagt sie.
Schließlich wurden aus dem ersten Treffen vier Jahre, in denen sie die Gemeinschaft fotografierte und ihr Leben kennenlernte.
Brody weiß nicht, warum, aber die Hutterer boten ihr die Möglichkeit, etwas zu tun, was sie normalerweise ablehnen: Brody durfte sie fotografieren und zusammen mit ihnen leben.
Brody fotografierte drei verschiedene Hutterer-Kolonien im Liberty
County, in denen jeweils rund 150 Menschen leben. In ihrer Arbeit
würdigt sie die vielen technischen Fähigkeiten, die es den Gemeinden
erlauben zu bestehen.
Sie besitzen ein Juwel – die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuleben
Vor allem aber führt sie die mannigfachen Beziehungen vor Augen, die
entstehen, wenn eine Gemeinschaft schlicht zu klein ist, um sich nochmal
zu spalten.
“Ich dachte, ich hätte ein Gespür dafür, wie die Hutterer ticken”,
sagte Brody. “Dann lernte ich sie besser kennen und merkte, dass sie
etwas ganz Besonderes besitzen: ein kleines Juwel, das sie einander weitergeben, und das wir nicht mehr haben.”
Brody beschreibt dieses “Juwel” als “die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuleben”.
Diese Beobachtung machte sie während ihrer Zeit mit den Frauen in den Kolonien. Egal,
ob sie sich persönlich mochten oder nicht, ihr Glaube habe sie stets
angehalten, “ihr Leben gemeinsam zu verbringen und alles zu teilen”.
Diesem Prinzip sind die Hutterer verpflichtet. Egal wie schwierig eine Situation ist oder die Person, der sie begegnen.
Du lernst, dich auf die Person einzustellen und ihr Raum zu geben
“In jeder Gemeinschaft findest du mindestens einen Menschen, der
destruktiv ist”, sagt Brody. “Wie gehst du mit so jemandem um? Ächtest
du ihn? Kannst du dir das in einer so kleinen Gemeinde leisten? Nein. Also lernst du, dich auf die Person einzustellen und ihr Raum zu geben.”
Die Hutterer Frauen versuchen, unterschiedliche Persönlichkeiten zum
Wohle der gesamten Gemeinschaft zusammenzubringen. Wenn ein Mitglied
negativ, unausstehlich oder frech ist – es mag sein Wesen sein oder
einen anderen Grund haben – dann schraubt die Gruppe ihre Erwartungen an die Person herunter.
Das gibt der Person den Freiraum und die Möglichkeit, innerhalb der Gemeinschaft zu funktionieren. Vielleicht ist es sogar ein Weg für sie, zufriedener zu werden.
Was sie verstanden haben, ist, dass du nicht alle
Menschen lieben musst. Du musst sie nicht einmal mögen. Aber du musst
mit ihnen auskommen und hilfsbereit sein.”
“Als die Leute anfingen, mich zu fragen, was ich dort
mache, merkte ich, dass ich im Grunde genau danach suchte: Nach einem
Puzzleteil in mir oder generell in uns, das abhanden gekommen war“, sagt
Brody. Toleranz erwartet man nicht unbedingt in einer Gemeinschaft, die fast alles abseits der eigenen Lebensweise ablehnt.
Aber wenn sie nichts erlauben, das von außen kommt, haben die
Mitglieder keine andere Wahl als einander zu wertschätzen und zu
beschützen.
Du musst nicht alle Menschen lieben – aber mit ihnen auskommen
“Was sie verstanden haben, ist, dass du nicht alle Menschen lieben musst. Du musst sie nicht einmal mögen”, erklärt Brody. “Aber du musst mit ihnen auskommen und hilfsbereit sein.”
Sie fügt hinzu: “Das ist eine wichtige Lektion, die dieses Land völlig vergessen hat.”
Brody beschreibt, wie grundlegend sich das Leben in den Städten und den abgeschotteten Gemeinden unterscheidet:
“Die Gemeinschaft in großen Städten, in denen wir leben, klappt nur in einem Schneesturm.
Wir sind so leicht auseinander zu bringen. Washington führt uns das
derzeit auf erschreckende Weise vor Augen. Wir haben offenbar jeglichen
Sinn dafür verloren, wie wichtig die Gemeinschaft für die Gestaltung
unseres Lebens ist.”
Für jeden ein paar Minuten Zeit nehmen
Über die Hutterer sagt Brody: “Sie haben mir so viel beigebracht, wenn es darum geht, einfach nur achtsam zu sein.”
Wenn du auf eine fremde Person triffst, magst du viel mit ihr
gemeinsam haben oder auch nicht. In jedem Fall kannst du dir ein paar
Minuten Zeit nehmen, innehalten. Und nicht gleich befürchten, dass sie dir etwas wegnehmen könnte. Oder dass du verlierst, wenn sie gewinnt.
Alles, was zurzeit in diesem Land passiert, ist so unglaublich
spaltend. Die Hutterer gehen nicht wählen. Aber einer von ihnen sagte zu
mir: ‘Es wird Zeit, dass wir es tun.’”
“Sie machen alles selbst, was sie tragen, außer Unterwäsche und Schuhe”, sagt Brody.
“Wenn man sich die Bilder ansieht, sieht es so aus, als trügen sie
unterschiedliche Kleidung. Bis man genau hinsieht und merkt, dass jede
Schürze den gleichen Schnitt hat, ebenso jeder Dirndl-Rock, jedes Hemd,
jede Jacke und jede Kopfbedeckung. Sie drücken ihre Persönlichkeit im
Stoffmuster aus.”
Unterschiede im Kleinen, Gemeinsamkeiten im Großen
Das sei wie eine Metapher für ihr Leben: “Dass sie kleine Dinge haben, in denen sie sich unterscheiden, in den großen Belangen aber passen sie sich an. Wenn eine Hutterer Frau nach Hollywood ginge, um als Näherin zu arbeiten, könnte sie richtig viel verdienen.“
Was Brody am meisten überraschte: Wie sehr die Hutterer die Außenwelt
fürchten.” Sie haben keinen Grund, so ängstlich zu sein, aber sie sind
es.” Die härtesten Arbeiten verrichten die Männer. Aber am meisten arbeiten die Frauen. Sie schlachten nicht das Vieh, aber sobald es getötet ist, übernehmen sie den Rest.
Sie schlachten Enten, Hühner und Gänse selbst. “Vielleicht fragen Sie
sich, was an Arbeit übrig bleibt? Wenn alle Frauen aus einer Kolonie
verschwänden, wäre sie wahrscheinlich nach fünf Tagen am Ende”, sagt
Brody.
Wie groß der Einfluss der Frauen ist, beschreibt Brody mit diesem Dialog:
Die Frauen sagen etwa zu mir: “Wir stimmen darüber ab, wer neuer Küchenchef wird.“
Ich frage: “Wer wählt?” Sie sagen: “Oh, die Männer.”
Ich frage, woher die Männer wissen, wen sie wählen sollen.
Und sie antworten: “Wir sagen ihnen, wen sie wählen sollen.” “Die Frauen stehen um vier Uhr morgens auf, um ihre Häuser auf Vordermann zu bringen. Sie putzen ständig ihre Häuser. Ich weiß nicht, was sie reinigen. Man könnte buchstäblich überall vom Boden essen.”
Eines Tages fragte eine der Frauen Brody, ob sie
gerne wüsste, worüber sie reden. Es sind Frauen im Alter zwischen 20 und
80 Jahren, die ihr gesamtes Leben zusammen verbracht haben.
“Sie sprachen darüber, welchen Duft sie lieber mögen, Meister Proper oder Pinesol – oder etwas mit Lavendel drin.”
Wenn Alltägliches wichtig wird
Brody sagt: “Mir wurde bewusst, dass man solche Beziehungen
mit jemandem hat, wenn man in einem College-Wohnheim lebt – wo
Alltägliches wichtig wird.”
“Sie sind Pazifisten, sie sind Kommunitaristen... Es gibt eine
Unmenge Leute, die sich um dich und deine Kinder kümmern. Es gibt
siebenjährige Mädchen, die fünf Monate alten Babys zugeteilt werden.
Und es gibt Au-Pair-Mädchen, die erst sechs oder sieben Jahre alt
sind. Du kannst dort ankommen und denken: ‘Oh, das könnte ich nicht
ertragen, das ist zu viel für mich.’
Doch am Ende des Tages schaffst du es nicht zu gehen, weil sie diese
eine Sache haben, die schwer zu beschreiben ist und die du nicht
hast.” Mehr zum Thema: Die Öko-Nazis: Wie Völkische Siedler Deutschland unterwandern wollen
Einer der Pastoren sagte zu Brody: “Wissen Sie, früher lehnten wir
Telefone ab und haben überlebt. Dann lehnten wir Handys ab und
überlebten. Aber mit dem Internet ist es etwas anderes.”
Brody sagte: “Sie haben völlig recht. Mit dem Internet ist es etwas
völlig anderes.” Er sagte: “Das macht mir wirklich Sorgen. Es können
schlimme Dinge passieren.” Der Text erschien zunächst auf HuffPost USA und wurde von Sandra Tjong aus dem Englischen übersetzt. (sk/amr)
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