Der stern
war in Caracas unterwegs mit zwei Freunden – der eine Pazifist, der
andere Kämpfer – die den Volksaufstand in Venezuela anführen.
n Venezuela laufen sie um ihr Leben: In den gut zwei Monaten der Massenproteste wurden mehr als 70 Menschen getötet und 10.000 verletzt
n Venezuela laufen sie um ihr Leben: In den gut zwei Monaten der Massenproteste wurden mehr als 70 Menschen getötet und 10.000 verletzt
© Juan Barreto/AFP
Am
Morgen nachdem Venezuelas Präsident Nicolás Maduro im Staatsfernsehen
wieder tanzt und herumkaspert, als befände er sich in einer Castingshow,
machen sich die Freunde Jo Gomez und Miguel Pizarro auf den langen Weg
zum Sturz des Regimes. Es ist Tag 65 der Unruhen und – wie sie bald
merken – der bislang härteste.
Jo ist 29 und eigentlich Sozialarbeiter aus Petare, einem Armenviertel der Hauptstadt Caracas. Aber in diesen dramatischen Tagen ist er der Anführer einer Gruppe von 30 Widerstandskämpfern.
Miguel, ebenfalls 29, ist Parlamentsabgeordneter der Partei
Primero Justicia aus Sucre, einem gemischten Wahlkreis. Aber jetzt ist
er auf einmal der Anführer einer ganzen Protestbewegung.
"Jo und ich sind wie Brüder", sagt Miguel.
"Trotz der Unterschiede", sagt Jo.
"Es beginnt mit einem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit“", kontert Miguel. "Man braucht brennbare Fette und Nägel, um die Fahrzeuge der Nationalgardisten lahmzulegen", sagt Jo.
"Wir sollten denen eher Blumen überbringen, um sie auf unsere Seite zu ziehen", entgegnet Miguel.
Sieben Tage lang begleiten wir die beiden Freunde und ihre Frage: Wie stürzt man einen Diktator?
Um 11.30 Uhr erreichen Jo und Miguel den Platz Altamira im
Osten von Caracas, Sammelpunkt der Protestmärsche. Die Sonne brennt
hier, unweit vom Äquator, unerbittlich. Es riecht nach Tränengas, das
den Platz in zwei Monaten der Kämpfe durchtränkt hat wie tropischer
Regen. Auch an diesem Montag im Juni versammeln sich mehr als 100.000
Bürger. Sie protestieren gegen den Hunger und die hohe Inflation (720
Prozent) und die Gewalt (28.000 Morde pro Jahr) und die Repression durch
die sozialistische Regierung. Mehr als 10.000 Menschen wurden bisher
verletzt, 3000 inhaftiert, mehr als 70 getötet.
"Maduro dictador", schreiben die Menschen überall auf
Häuserwände. Es ist die treffendste Bezeichnung für den einst
demokratisch gewählten Führer.
Jo setzt sich Gasmaske und Helm auf. Er springt auf die Ladefläche des gekaperten Trucks und fährt mit den Leuten seines Bataillons unter dem Jubel der Menschen an die Spitze des Protestzugs.
Miguel bleibt in der Menge zurück. Die Bürger wollen noch Selfies mit ihrem neuen Star.
Nach 65 Tagen haben die Aufmärsche in Venezuela eine gewisse Ordnung. Hinten gehen die Rentner und Familien, die Krankenschwestern und Politiker wie Miguel. Sie tragen Schilder, "Wir haben Hunger" oder "Ich bin ein Befreier". Sie versorgen die erschöpften Frontkämpfer mit Sandwiches und spülen deren brennende Augen mit Wasser aus.
Da marschiert ein Querschnitt der Bevölkerung: arm und reich, schwarz und weiß. Maduro nennt sie "Terroristen", "Faschisten", "Söldner".
Gegen 14 Uhr nähern sich die Demonstranten einer Anhöhe an der Autobahn Fajardo. Von hier wollen sie, wie in den Tagen zuvor, über die Autobahn Richtung Westen ziehen, zum Regierungssitz. Aber diesmal werden sie abgefangen. Über ihnen kreisen Drohnen. Auf den Hochhäusern postieren sich Heckenschützen der Regierung. 200 Meter vor ihnen formiert sich eine Wand aus Nationalgardisten, Polizisten und Milizen, Colectivos genannt. Es ist jener hochgerüstete Sicherheitsapparat, der das Regime noch am Leben hält.
Und dann stürmen sie los, in die Rauchwolke hinein, auf die Sicherheitskräfte zu. Und man ahnt, dass es Tote und Verletzte geben wird. Jo Gomez, Vater zweier Kinder, war selbst mal Gangster, aber das ist zehn Jahre her. Er wuchs bei seiner Oma auf, weil die Eltern genug mit sich selbst zu tun hatten. Mit zwölf begann er als Stalljunge zu arbeiten, mit 15 in der Gang. Doch er fand wieder heraus und wurde Community Organizer. Heute organisiert er Sportevents, um Kinder von der Straße zu holen – und Spenden, damit sie nicht hungern. Wenn die Kindheit ihn was gelehrt hat, dann dies: Du musst tough sein.
Aber nun soll er plötzlich eine Art Leutnant sein. Seine Einheit heißt "Petare norte". Bäckerjungen sind dabei, Arbeitslose, Friseurinnen. Viele Arme, für die mit dem sozialistischen Präsidenten Hugo Chávez 1999 der Aufstieg begann und spätestens mit dessen Nachfolger Maduro 2013 der tiefe Fall.
Beim Sturm auf die Anhöhe ist Jos Truppe mit dabei. Und plötzlich bricht Jubel aus. Die Nationalgardisten springen auf ihre Motorräder und fliehen vor den Massen in Richtung einer Militärbasis. Die Rebellen nehmen die Anhöhe ein und stürmen die Autobahn. Tausende Demonstranten rücken nach, auch Miguel. Für einen Moment, zum ersten Mal in 65 Tagen, scheinen die Regierungstruppen besiegt.
"Das ist Freiheitskampf", sagt Jo. "Ich kann den Jungs nicht mit Pazifismus kommen. Zu viel ist passiert. Sie haben Hunger. Sie haben Freunde verloren. Sie wollen Rache." Jo zeigt auf seinem Smartphone Fotos von Todesopfern und deren Schusswunden. "Ich weiß, Miguel sieht das anders. Aber ich sage ihm: Der Hass ist nicht mehr zu kontrollieren."
Miguel erreicht das Schlachtfeld, dieser dünne Kerl mit wenig Haut zwischen den Tattoos. Seine Brille ist beschlagen, das Haar zerwühlt. Er hält die Jungs davon ab, Steine auf Lastwagen zu werfen. "Wir müssen edler sein als der Gegner", erklärt er. "Sonst verlieren wir den Rückhalt im Volk. Wir haben im Kampf gegen schwer bewaffnete Truppen keine Chance. Wir sind wie ich – ein Leichtgewicht."
Jo ist 29 und eigentlich Sozialarbeiter aus Petare, einem Armenviertel der Hauptstadt Caracas. Aber in diesen dramatischen Tagen ist er der Anführer einer Gruppe von 30 Widerstandskämpfern.
Präsident Nicolás Maduro
Foto: Reuters
"Jo und ich sind wie Brüder", sagt Miguel.
"Trotz der Unterschiede", sagt Jo.
Ein Volksaufstand in Venezuela braucht so was wie "deutsche Präzisionsarbeit"
Ein Volksaufstand in Venezuela, haben beide festgestellt, braucht so was wie "deutsche Präzisionsarbeit". "Es beginnt mit guten Lastwagen, die wir kapern, um in die Schlacht zu fahren", erklärt Jo, "am besten Mercedes-Benz.""Es beginnt mit einem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit“", kontert Miguel. "Man braucht brennbare Fette und Nägel, um die Fahrzeuge der Nationalgardisten lahmzulegen", sagt Jo.
"Wir sollten denen eher Blumen überbringen, um sie auf unsere Seite zu ziehen", entgegnet Miguel.
Sieben Tage lang begleiten wir die beiden Freunde und ihre Frage: Wie stürzt man einen Diktator?
© stern-Infografik
Jo setzt sich Gasmaske und Helm auf. Er springt auf die Ladefläche des gekaperten Trucks und fährt mit den Leuten seines Bataillons unter dem Jubel der Menschen an die Spitze des Protestzugs.
Miguel bleibt in der Menge zurück. Die Bürger wollen noch Selfies mit ihrem neuen Star.
Nach 65 Tagen haben die Aufmärsche in Venezuela eine gewisse Ordnung. Hinten gehen die Rentner und Familien, die Krankenschwestern und Politiker wie Miguel. Sie tragen Schilder, "Wir haben Hunger" oder "Ich bin ein Befreier". Sie versorgen die erschöpften Frontkämpfer mit Sandwiches und spülen deren brennende Augen mit Wasser aus.
Auf den Hochhäusern postieren sich Heckenschützen der Regierung
Vorn marschieren die "Chamos", meist dunkelhäutige Jungen um die 20, mit selbst gebauten Schilden und Hockeyschlägern, so wie Jo. Er kommandiert seine Männer an der Front per Whatsapp und schickt Späher auf Motorrädern los.Da marschiert ein Querschnitt der Bevölkerung: arm und reich, schwarz und weiß. Maduro nennt sie "Terroristen", "Faschisten", "Söldner".
Gegen 14 Uhr nähern sich die Demonstranten einer Anhöhe an der Autobahn Fajardo. Von hier wollen sie, wie in den Tagen zuvor, über die Autobahn Richtung Westen ziehen, zum Regierungssitz. Aber diesmal werden sie abgefangen. Über ihnen kreisen Drohnen. Auf den Hochhäusern postieren sich Heckenschützen der Regierung. 200 Meter vor ihnen formiert sich eine Wand aus Nationalgardisten, Polizisten und Milizen, Colectivos genannt. Es ist jener hochgerüstete Sicherheitsapparat, der das Regime noch am Leben hält.
Man ahnt, dass es Tote und Verletzte geben wird
Doch nach 60 Minuten passiert das Unerwartete. Die Schüsse verstummen. "Ihnen geht die Munition aus", schreit Jo. Er kennt das von den Bandenkämpfen in seinem Viertel. Und spontan ertönt ein neuer Sound, die Stimmen Tausender Menschen. "10, 9, 8", brüllen sie im Chor. "7, 6, 5, 4", hallt es zwischen den Hochhäusern wider, "3, 2, 1 ..."Und dann stürmen sie los, in die Rauchwolke hinein, auf die Sicherheitskräfte zu. Und man ahnt, dass es Tote und Verletzte geben wird. Jo Gomez, Vater zweier Kinder, war selbst mal Gangster, aber das ist zehn Jahre her. Er wuchs bei seiner Oma auf, weil die Eltern genug mit sich selbst zu tun hatten. Mit zwölf begann er als Stalljunge zu arbeiten, mit 15 in der Gang. Doch er fand wieder heraus und wurde Community Organizer. Heute organisiert er Sportevents, um Kinder von der Straße zu holen – und Spenden, damit sie nicht hungern. Wenn die Kindheit ihn was gelehrt hat, dann dies: Du musst tough sein.
Aber nun soll er plötzlich eine Art Leutnant sein. Seine Einheit heißt "Petare norte". Bäckerjungen sind dabei, Arbeitslose, Friseurinnen. Viele Arme, für die mit dem sozialistischen Präsidenten Hugo Chávez 1999 der Aufstieg begann und spätestens mit dessen Nachfolger Maduro 2013 der tiefe Fall.
© Juan Barreto/AFP
Beim Sturm auf die Anhöhe ist Jos Truppe mit dabei. Und plötzlich bricht Jubel aus. Die Nationalgardisten springen auf ihre Motorräder und fliehen vor den Massen in Richtung einer Militärbasis. Die Rebellen nehmen die Anhöhe ein und stürmen die Autobahn. Tausende Demonstranten rücken nach, auch Miguel. Für einen Moment, zum ersten Mal in 65 Tagen, scheinen die Regierungstruppen besiegt.
"Kein Diktator ging je ohne Blutvergießen", sagt Jo.
Er
steht auf der Anhöhe wie ein Feldherr, ein schmaler Kerl in
zerknautschtem Hemd und dünnen Turnschuhen. Von hier hat er den besten
Rundblick auf die Hauptstadt. Aus geröteten Augen schaut er auf seinen
Slum im Osten und die Villengegend der Parteibonzen im Westen, auf
diesen ewigen Widerspruch des Sozialismus.Jeder Schritt knirscht auf Glassplittern und Patronenhülsen
Über der Autobahn liegt der Rauch der Bomben wie der Frühtau im Herbst. Jeder Atemzug schmeckt nach Metall. Jeder Schritt knirscht auf Glassplittern und Patronenhülsen. Krankenschwestern kümmern sich um Verletzte. Deren Rücken sind mit den Wunden von Platzpatronen übersät, wie Pocken. Jugendliche halten ihre Schilde wie Gladiatoren im alten Rom. Szenen wie aus dem dystopischen Actionthriller "Mad Max"."Das ist Freiheitskampf", sagt Jo. "Ich kann den Jungs nicht mit Pazifismus kommen. Zu viel ist passiert. Sie haben Hunger. Sie haben Freunde verloren. Sie wollen Rache." Jo zeigt auf seinem Smartphone Fotos von Todesopfern und deren Schusswunden. "Ich weiß, Miguel sieht das anders. Aber ich sage ihm: Der Hass ist nicht mehr zu kontrollieren."
Miguel erreicht das Schlachtfeld, dieser dünne Kerl mit wenig Haut zwischen den Tattoos. Seine Brille ist beschlagen, das Haar zerwühlt. Er hält die Jungs davon ab, Steine auf Lastwagen zu werfen. "Wir müssen edler sein als der Gegner", erklärt er. "Sonst verlieren wir den Rückhalt im Volk. Wir haben im Kampf gegen schwer bewaffnete Truppen keine Chance. Wir sind wie ich – ein Leichtgewicht."
© Wil Riera
Die beiden Freunde vertreten nicht nur die konkurrierenden Flügel des
Aufstands, sondern unterschiedliche Strategien, ja Philosophien. Auch
ihre Begriffe sind andere: Jo spricht von Freiheitskampf. Miguel von
Widerstand.
Etwa 30 Minuten lang haben die Demonstranten die Autobahn für sich. Dann setzt in der Ferne ein gewaltiges Brummen ein. Die Sicherheitskräfte kehren in Hundertschaften mit neuer Munition auf Motorrädern zurück und jetzt auch mit Panzerwagen.
Die Menschen rennen um ihr Leben. Jo rettet sich in einen Hauseingang. Nur Miguel und einige andere ziehen sich fast stoisch zurück. Aus der Ferne lässt sich beobachten, wie er die Hände hebt. Drei Polizisten treten auf ihn zu. "Ich bin Kongressabgeordneter", sagt er. "Ihr Abgeordnete seid ein Haufen Scheiße", sagt der Polizist und schlägt ihm ins Gesicht. Miguel taumelt und fällt. Er rafft sich auf und verspürt den Wunsch zurückzuschlagen. Er tut es nicht. "Sie warten doch nur darauf, das zu filmen", sagt er uns später.
Als Miguel einmal bei einem Tränengasangriff ohnmächtig wurde, zog Jo ihn heraus. Als Jo zwei Schüsse ins Bein trafen, half Miguel ihm. Sie mögen unterschiedliche Rollen in der "Resistencia" haben. Aber in erster Linie sind sie Brüder.
An diesem 65. Tag der Unruhen gehen die Regierungstruppen in ihrer Brutalität weiter als bisher. Maduro hat angewiesen, die Proteste innerhalb von acht Tagen zu beenden. Die Nationalgardisten beklauen nun ältere Frauen. Sie rauben Motorräder und Kameras der Reporter. Aber sie bedenken eines nicht: Die Aufnahmen gehen in die sozialen Netze und um die Welt.
Wenn sich Jo und Miguel einig sind, dann darin: Dieser Kampf wird täglich neu gewonnen, vor allem auf Twitter und Facebook. Den traditionellen venezolanischen Medien glaubt keiner mehr. Sie sind fast alle in der Hand des Staats.
Etwa 30 Minuten lang haben die Demonstranten die Autobahn für sich. Dann setzt in der Ferne ein gewaltiges Brummen ein. Die Sicherheitskräfte kehren in Hundertschaften mit neuer Munition auf Motorrädern zurück und jetzt auch mit Panzerwagen.
Die Menschen rennen um ihr Leben. Jo rettet sich in einen Hauseingang. Nur Miguel und einige andere ziehen sich fast stoisch zurück. Aus der Ferne lässt sich beobachten, wie er die Hände hebt. Drei Polizisten treten auf ihn zu. "Ich bin Kongressabgeordneter", sagt er. "Ihr Abgeordnete seid ein Haufen Scheiße", sagt der Polizist und schlägt ihm ins Gesicht. Miguel taumelt und fällt. Er rafft sich auf und verspürt den Wunsch zurückzuschlagen. Er tut es nicht. "Sie warten doch nur darauf, das zu filmen", sagt er uns später.
Als Jo zwei Schüsse ins Bein trafen, half Miguel ihm
Miguels Vorbild ist Martin Luther King. Jos Vorbild ist der Freiheitskämpfer Simón Bolívar, der vor 200 Jahren gegen die spanischen Kolonialherren kämpfte. Das ist der Unterschied.Als Miguel einmal bei einem Tränengasangriff ohnmächtig wurde, zog Jo ihn heraus. Als Jo zwei Schüsse ins Bein trafen, half Miguel ihm. Sie mögen unterschiedliche Rollen in der "Resistencia" haben. Aber in erster Linie sind sie Brüder.
An diesem 65. Tag der Unruhen gehen die Regierungstruppen in ihrer Brutalität weiter als bisher. Maduro hat angewiesen, die Proteste innerhalb von acht Tagen zu beenden. Die Nationalgardisten beklauen nun ältere Frauen. Sie rauben Motorräder und Kameras der Reporter. Aber sie bedenken eines nicht: Die Aufnahmen gehen in die sozialen Netze und um die Welt.
Wenn sich Jo und Miguel einig sind, dann darin: Dieser Kampf wird täglich neu gewonnen, vor allem auf Twitter und Facebook. Den traditionellen venezolanischen Medien glaubt keiner mehr. Sie sind fast alle in der Hand des Staats.
© Luis Robayo/AFP
Familienväter wühlen im Müll Am folgenden Abend kommen Jo, Miguel und
die Anführer der Demokratiebewegung zu einem öffentlichen
Strategietreffen auf der Plaza Miranda zusammen. Es läuft Salsa und
Merengue, ein lauer Wind weht von den Bergen, die Abendsonne setzt den
Platz in tropisches Licht. Ein kurzer Moment scheinbarer Harmonie.
Direkt nebenan am Shoppingzentrum aber wühlen Männer im Müll. Es sind nicht Bettler, sondern Familienväter. Viele Geschäfte sind verwaist, und jene, die noch offen sind, verkaufen Badelatschen zum Preis eines Monatseinkommens – und ein iPhone zum Preis von zehn Jahreseinkommen. In den Mangobäumen im Park klettern nicht Kinder, sondern Erwachsene, die das Abendessen ernten. Kein Staat der Welt ist so tief gestürzt wie Venezuela, das Land mit den größten Erdölvorkommen. Der Staat nutzte den Reichtum für den sinnvollen Ausbau der Sozialprogramme, enteignete aber Privatbetriebe und vernachlässigte die Herstellung von Lebensmitteln und Alltagsprodukten. Mit dem Fall der Ölpreise stand Venezuela plötzlich ohne Devisen, Lebensmittel und Medikamente da. "Wir sind ein Land auf der Intensivstation", sagt Miguel.
Als letzter Redner des Abends spricht Miguel. Schon ist es dunkel, die Leute wollen nach Hause, sie haben Angst vor den weit verbreiteten Kidnappings. Miguel ist zum ungewöhnlichen Helden der Aufstände geworden, ein tätowierter Hipster mit dicken Brillengläsern. Jeden Tag geht der Abgeordnete mit den Menschen auf die Straße. Jeden Tag mit Angst, dass ihn eine Kugel trifft. "Aber größer ist meine Angst, dass unsere Kinder weiter hungern, dass unsere Eltern ohne Medikamente sterben, dass wir in einem totalitären Staat leben. Lasst uns nicht Opfer sein. Lasst uns die Protagonisten unserer Befreiung sein", ruft er. Die letzten Worte gehen im Jubel unter.
Direkt nebenan am Shoppingzentrum aber wühlen Männer im Müll. Es sind nicht Bettler, sondern Familienväter. Viele Geschäfte sind verwaist, und jene, die noch offen sind, verkaufen Badelatschen zum Preis eines Monatseinkommens – und ein iPhone zum Preis von zehn Jahreseinkommen. In den Mangobäumen im Park klettern nicht Kinder, sondern Erwachsene, die das Abendessen ernten. Kein Staat der Welt ist so tief gestürzt wie Venezuela, das Land mit den größten Erdölvorkommen. Der Staat nutzte den Reichtum für den sinnvollen Ausbau der Sozialprogramme, enteignete aber Privatbetriebe und vernachlässigte die Herstellung von Lebensmitteln und Alltagsprodukten. Mit dem Fall der Ölpreise stand Venezuela plötzlich ohne Devisen, Lebensmittel und Medikamente da. "Wir sind ein Land auf der Intensivstation", sagt Miguel.
Miguel ist zum ungewöhnlichen Helden der Aufstände geworden
Die Frage für die Bürgerrechtler an diesem Abend ist: Wie zwingen wir dieses hochgerüstete Regime in die Knie? Die Sowjetunion hatte Gorbatschow, die DDR den Fall der Mauer. Maduro hat eine Art Narco-Diktatur errichtet. Er sagte Wahlen ab und entmachtete das Parlament, Oppositionelle steckt er in den Knast. Seine Familienmitglieder stehen wegen Drogenschmuggels in den USA vor Gericht.Als letzter Redner des Abends spricht Miguel. Schon ist es dunkel, die Leute wollen nach Hause, sie haben Angst vor den weit verbreiteten Kidnappings. Miguel ist zum ungewöhnlichen Helden der Aufstände geworden, ein tätowierter Hipster mit dicken Brillengläsern. Jeden Tag geht der Abgeordnete mit den Menschen auf die Straße. Jeden Tag mit Angst, dass ihn eine Kugel trifft. "Aber größer ist meine Angst, dass unsere Kinder weiter hungern, dass unsere Eltern ohne Medikamente sterben, dass wir in einem totalitären Staat leben. Lasst uns nicht Opfer sein. Lasst uns die Protagonisten unserer Befreiung sein", ruft er. Die letzten Worte gehen im Jubel unter.
© Wil Riera
Wie Jo hat auch Miguel einen langen Weg hinter sich. Während Jo vom
Bandenmitglied zum Sozialarbeiter wurde, wurde Miguel vom Kommunisten
zum Anti-Chavista. Seine Eltern waren Kommunisten und landeten im
Gefängnis. Er flog von der Schule, weil er zu politisch war. Mit 21 zog
er als einer der jüngsten Abgeordneten ins Parlament ein. Wenn die
Kindheit ihn etwas gelehrt hat, dann das: Misstraue den Autoritäten,
egal, welcher Couleur.
Miguel setzt auf einen Dreistufenplan: die Protestmärsche erweitern. Den internationalen Druck erhöhen. Das Militär auf seine Seite ziehen. "Seid keine Komplizen der Verbrecher!", ruft er ihnen zu. "Lasst nicht zu, dass sie uns töten. Auch eure Söhne sind auf der Straße."
Der nächste Tag, Tag 67, beginnt voller Hoffnung. Trotz der Einschüchterungen und des starken Regens gehen abermals mehr als Hunderttausend auf die Straße. Passanten schließen sich spontan an, Arbeiter in der Mittagspause, Krankenschwestern in Uniformen. Doch die Sicherheitskräfte zerschlagen die Demo auf brutalste Weise, panikartig fliehen die Menschen durch die Straßen, ein 17-jähriger Schüler verblutet, Neomar Lander.
Die Regierung sagt: Lander wollte eine Bombe werfen. Die Opposition sagt: Lander wurde gezielt mit Tränengas beschossen.
Miguel trägt den Jungen mit aus der Gefechtszone und tröstet die Freunde. Dann bricht er zusammen und weint. Zum ersten Mal in diesen sieben Tagen sehen wir Miguel Pizarro am Boden. Die Regierung wird ihn am Abend einen "Mörder" nennen, weil er junge Menschen aufhetze.
Jo ist im Getümmel verschwunden und taucht aus Sicherheitsgründen unter. Erst am Abend meldet er sich: "Ich bin am Leben." Am nächsten Tag zieht er durch seinen hügeligen Slum Petare. Die Sonne brennt, am Himmel kreisen Helikopter des Militärs. Er geht von Tür zu Tür und versucht, Chavistas und Gangs für den Kampf einzuspannen. "Ihr hungert doch auch", sagt er. "Ihr habt die Härte für den Kampf." Jo ist jetzt eine Art Rekruteur. Er glaubt: Nur wenn die Hügel hinabsteigen, fällt das Regime.
Miguel trifft sich mit den Eltern des getöteten Lander und tritt danach vor die Kameras. Er ist 29 und muss der Tröster der Nation sein. Er bebt vor Trauer und Wut, ruft aber zu einem friedlichen Gedenkmarsch auf. Es muss weitergehen. Er glaubt: Nur wenn sich das gesamte Volk anschließt, fällt das Regime.
So vergeht Tag 68 für Jo und Miguel, noch mal härter als der vorige. Morgen sind sie wieder gemeinsam auf der Straße.
Miguel setzt auf einen Dreistufenplan: die Protestmärsche erweitern. Den internationalen Druck erhöhen. Das Militär auf seine Seite ziehen. "Seid keine Komplizen der Verbrecher!", ruft er ihnen zu. "Lasst nicht zu, dass sie uns töten. Auch eure Söhne sind auf der Straße."
"Die Militärs reagieren nur, wenn sie merken, es geht ihnen an den Kragen"
Miguel erhält Standing Ovations. Das ist sein Element: die Bühne. Die Worte. Jos Element ist die Front. Er steht etwas abseits, voller Bewunderung – und voller Zweifel. "Miguel ist großartig", sagt er. "Unser zukünftiger Präsident." Seine Strategie aber sieht er kritisch. "Die Militärs reagieren nur, wenn sie merken, es geht ihnen an den Kragen. Die brauchen Druck. Pazifismus und Tralala reichen da nicht."Der nächste Tag, Tag 67, beginnt voller Hoffnung. Trotz der Einschüchterungen und des starken Regens gehen abermals mehr als Hunderttausend auf die Straße. Passanten schließen sich spontan an, Arbeiter in der Mittagspause, Krankenschwestern in Uniformen. Doch die Sicherheitskräfte zerschlagen die Demo auf brutalste Weise, panikartig fliehen die Menschen durch die Straßen, ein 17-jähriger Schüler verblutet, Neomar Lander.
Die Regierung sagt: Lander wollte eine Bombe werfen. Die Opposition sagt: Lander wurde gezielt mit Tränengas beschossen.
Miguel trägt den Jungen mit aus der Gefechtszone und tröstet die Freunde. Dann bricht er zusammen und weint. Zum ersten Mal in diesen sieben Tagen sehen wir Miguel Pizarro am Boden. Die Regierung wird ihn am Abend einen "Mörder" nennen, weil er junge Menschen aufhetze.
Jo ist im Getümmel verschwunden und taucht aus Sicherheitsgründen unter. Erst am Abend meldet er sich: "Ich bin am Leben." Am nächsten Tag zieht er durch seinen hügeligen Slum Petare. Die Sonne brennt, am Himmel kreisen Helikopter des Militärs. Er geht von Tür zu Tür und versucht, Chavistas und Gangs für den Kampf einzuspannen. "Ihr hungert doch auch", sagt er. "Ihr habt die Härte für den Kampf." Jo ist jetzt eine Art Rekruteur. Er glaubt: Nur wenn die Hügel hinabsteigen, fällt das Regime.
Miguel trifft sich mit den Eltern des getöteten Lander und tritt danach vor die Kameras. Er ist 29 und muss der Tröster der Nation sein. Er bebt vor Trauer und Wut, ruft aber zu einem friedlichen Gedenkmarsch auf. Es muss weitergehen. Er glaubt: Nur wenn sich das gesamte Volk anschließt, fällt das Regime.
So vergeht Tag 68 für Jo und Miguel, noch mal härter als der vorige. Morgen sind sie wieder gemeinsam auf der Straße.
Die Reportage über Venezuela ist dem aktuellen stern entnommen:
stern Nr. 25/2017
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