Am
Morgen nachdem Venezuelas Präsident Nicolás Maduro im Staatsfernsehen
wieder tanzt und herumkaspert, als befände er sich in einer Castingshow,
machen sich die Freunde Jo Gomez und Miguel Pizarro auf den langen Weg
zum Sturz des Regimes. Es ist Tag 65 der Unruhen und – wie sie bald
merken – der bislang härteste.
Jo ist 29 und eigentlich Sozialarbeiter aus Petare, einem Armenviertel der Hauptstadt Caracas. Aber in diesen dramatischen Tagen ist er der Anführer einer Gruppe von 30 Widerstandskämpfern.
Präsident Nicolás Maduro
Foto: Reuters
Nicolás Maduro wurde 2013 demokratisch gewählt und agiert nach Meinung vieler inzwischen längst wie ein Despot.
Miguel, ebenfalls 29, ist Parlamentsabgeordneter der Partei
Primero Justicia aus Sucre, einem gemischten Wahlkreis. Aber jetzt ist
er auf einmal der Anführer einer ganzen Protestbewegung.
"Jo und ich sind wie Brüder", sagt Miguel.
"Trotz der Unterschiede", sagt Jo.
Ein Volksaufstand in Venezuela braucht so was wie "deutsche Präzisionsarbeit"
Ein Volksaufstand in Venezuela,
haben beide festgestellt, braucht so was wie "deutsche
Präzisionsarbeit". "Es beginnt mit guten Lastwagen, die wir kapern, um
in die Schlacht zu fahren", erklärt Jo, "am besten Mercedes-Benz."
"Es beginnt mit einem Bekenntnis zur Gewaltfreiheit“", kontert Miguel. "Man braucht brennbare Fette und Nägel, um die Fahrzeuge der Nationalgardisten lahmzulegen", sagt Jo.
"Wir sollten denen eher Blumen überbringen, um sie auf unsere Seite zu ziehen", entgegnet Miguel.
Sieben Tage lang begleiten wir die beiden Freunde und ihre Frage: Wie stürzt man einen Diktator?
Um 11.30 Uhr erreichen Jo und Miguel den Platz Altamira im
Osten von Caracas, Sammelpunkt der Protestmärsche. Die Sonne brennt
hier, unweit vom Äquator, unerbittlich. Es riecht nach Tränengas, das
den Platz in zwei Monaten der Kämpfe durchtränkt hat wie tropischer
Regen. Auch an diesem Montag im Juni versammeln sich mehr als 100.000
Bürger. Sie protestieren gegen den Hunger und die hohe Inflation (720
Prozent) und die Gewalt (28.000 Morde pro Jahr) und die Repression durch
die sozialistische Regierung. Mehr als 10.000 Menschen wurden bisher
verletzt, 3000 inhaftiert, mehr als 70 getötet.
"Maduro dictador", schreiben die Menschen überall auf
Häuserwände. Es ist die treffendste Bezeichnung für den einst
demokratisch gewählten Führer.
Jo setzt sich Gasmaske und Helm
auf. Er springt auf die Ladefläche des gekaperten Trucks und fährt mit
den Leuten seines Bataillons unter dem Jubel der Menschen an die Spitze
des Protestzugs.
Miguel bleibt in der Menge zurück. Die Bürger wollen noch Selfies mit ihrem neuen Star.
Nach
65 Tagen haben die Aufmärsche in Venezuela eine gewisse Ordnung. Hinten
gehen die Rentner und Familien, die Krankenschwestern und Politiker wie
Miguel. Sie tragen Schilder, "Wir haben Hunger" oder "Ich bin ein
Befreier". Sie versorgen die erschöpften Frontkämpfer mit Sandwiches und
spülen deren brennende Augen mit Wasser aus.
Auf den Hochhäusern postieren sich Heckenschützen der Regierung
Vorn
marschieren die "Chamos", meist dunkelhäutige Jungen um die 20, mit
selbst gebauten Schilden und Hockeyschlägern, so wie Jo. Er kommandiert
seine Männer an der Front per Whatsapp und schickt Späher auf
Motorrädern los.
Da marschiert ein Querschnitt der Bevölkerung:
arm und reich, schwarz und weiß. Maduro nennt sie "Terroristen",
"Faschisten", "Söldner".
Gegen 14 Uhr nähern sich die
Demonstranten einer Anhöhe an der Autobahn Fajardo. Von hier wollen sie,
wie in den Tagen zuvor, über die Autobahn Richtung Westen ziehen, zum
Regierungssitz. Aber diesmal werden sie abgefangen. Über ihnen kreisen
Drohnen. Auf den Hochhäusern postieren sich Heckenschützen der
Regierung. 200 Meter vor ihnen formiert sich eine Wand aus
Nationalgardisten, Polizisten und Milizen, Colectivos genannt. Es ist
jener hochgerüstete Sicherheitsapparat, der das Regime noch am Leben
hält.
Auf einer Schnellstraße treffen hochgerüstete Polizeieinheiten und Demonstranten aufeinander
Man ahnt, dass es Tote und Verletzte geben wird
Doch
nach 60 Minuten passiert das Unerwartete. Die Schüsse verstummen.
"Ihnen geht die Munition aus", schreit Jo. Er kennt das von den
Bandenkämpfen in seinem Viertel. Und spontan ertönt ein neuer Sound, die
Stimmen Tausender Menschen. "10, 9, 8", brüllen sie im Chor. "7, 6, 5,
4", hallt es zwischen den Hochhäusern wider, "3, 2, 1 ..."
Und
dann stürmen sie los, in die Rauchwolke hinein, auf die
Sicherheitskräfte zu. Und man ahnt, dass es Tote und Verletzte geben
wird. Jo Gomez, Vater zweier Kinder, war selbst mal Gangster, aber das
ist zehn Jahre her. Er wuchs bei seiner Oma auf, weil die Eltern genug
mit sich selbst zu tun hatten. Mit zwölf begann er als Stalljunge zu
arbeiten, mit 15 in der Gang. Doch er fand wieder heraus und wurde
Community Organizer. Heute organisiert er Sportevents, um Kinder von der
Straße zu holen – und Spenden, damit sie nicht hungern. Wenn die
Kindheit ihn was gelehrt hat, dann dies: Du musst tough sein.
Aber
nun soll er plötzlich eine Art Leutnant sein. Seine Einheit heißt
"Petare norte". Bäckerjungen sind dabei, Arbeitslose, Friseurinnen.
Viele Arme, für die mit dem sozialistischen Präsidenten Hugo Chávez 1999
der Aufstieg begann und spätestens mit dessen Nachfolger Maduro 2013
der tiefe Fall.
Ein Aktivist hat Feuer gefangen, nachdem der Tank eines Motorrads explodiert ist
Beim Sturm auf die Anhöhe ist Jos Truppe mit dabei. Und plötzlich
bricht Jubel aus. Die Nationalgardisten springen auf ihre Motorräder und
fliehen vor den Massen in Richtung einer Militärbasis. Die Rebellen
nehmen die Anhöhe ein und stürmen die Autobahn. Tausende Demonstranten
rücken nach, auch Miguel. Für einen Moment, zum ersten Mal in 65 Tagen,
scheinen die Regierungstruppen besiegt.
"Kein Diktator ging je ohne Blutvergießen", sagt Jo.
Er
steht auf der Anhöhe wie ein Feldherr, ein schmaler Kerl in
zerknautschtem Hemd und dünnen Turnschuhen. Von hier hat er den besten
Rundblick auf die Hauptstadt. Aus geröteten Augen schaut er auf seinen
Slum im Osten und die Villengegend der Parteibonzen im Westen, auf
diesen ewigen Widerspruch des Sozialismus.
Jeder Schritt knirscht auf Glassplittern und Patronenhülsen
Über
der Autobahn liegt der Rauch der Bomben wie der Frühtau im Herbst.
Jeder Atemzug schmeckt nach Metall. Jeder Schritt knirscht auf
Glassplittern und Patronenhülsen. Krankenschwestern kümmern sich um
Verletzte. Deren Rücken sind mit den Wunden von Platzpatronen übersät,
wie Pocken. Jugendliche halten ihre Schilde wie Gladiatoren im alten
Rom. Szenen wie aus dem dystopischen Actionthriller "Mad Max".
"Das
ist Freiheitskampf", sagt Jo. "Ich kann den Jungs nicht mit Pazifismus
kommen. Zu viel ist passiert. Sie haben Hunger. Sie haben Freunde
verloren. Sie wollen Rache." Jo zeigt auf seinem Smartphone Fotos von
Todesopfern und deren Schusswunden. "Ich weiß, Miguel sieht das anders.
Aber ich sage ihm: Der Hass ist nicht mehr zu kontrollieren."
Miguel
erreicht das Schlachtfeld, dieser dünne Kerl mit wenig Haut zwischen
den Tattoos. Seine Brille ist beschlagen, das Haar zerwühlt. Er hält die
Jungs davon ab, Steine auf Lastwagen zu werfen. "Wir müssen edler sein
als der Gegner", erklärt er. "Sonst verlieren wir den Rückhalt im Volk.
Wir haben im Kampf gegen schwer bewaffnete Truppen keine Chance. Wir
sind wie ich – ein Leichtgewicht."
Miguel
Pizarro tröstet Freunde, nachdem ein 17-Jähriger verblutet ist. Der
Abgeordnete ist überzeugt, dass die Demonstranten trotz allem friedlich
bleiben müssen
Die beiden Freunde vertreten nicht nur die konkurrierenden Flügel des
Aufstands, sondern unterschiedliche Strategien, ja Philosophien. Auch
ihre Begriffe sind andere: Jo spricht von Freiheitskampf. Miguel von
Widerstand.
Etwa 30 Minuten lang haben die Demonstranten die
Autobahn für sich. Dann setzt in der Ferne ein gewaltiges Brummen ein.
Die Sicherheitskräfte kehren in Hundertschaften mit neuer Munition auf
Motorrädern zurück und jetzt auch mit Panzerwagen.
Die Menschen
rennen um ihr Leben. Jo rettet sich in einen Hauseingang. Nur Miguel und
einige andere ziehen sich fast stoisch zurück. Aus der Ferne lässt sich
beobachten, wie er die Hände hebt. Drei Polizisten treten auf ihn zu.
"Ich bin Kongressabgeordneter", sagt er. "Ihr Abgeordnete seid ein
Haufen Scheiße", sagt der Polizist und schlägt ihm ins Gesicht. Miguel
taumelt und fällt. Er rafft sich auf und verspürt den Wunsch
zurückzuschlagen. Er tut es nicht. "Sie warten doch nur darauf, das zu
filmen", sagt er uns später.
Als Jo zwei Schüsse ins Bein trafen, half Miguel ihm
Miguels
Vorbild ist Martin Luther King. Jos Vorbild ist der Freiheitskämpfer
Simón Bolívar, der vor 200 Jahren gegen die spanischen Kolonialherren
kämpfte. Das ist der Unterschied.
Als Miguel einmal bei einem
Tränengasangriff ohnmächtig wurde, zog Jo ihn heraus. Als Jo zwei
Schüsse ins Bein trafen, half Miguel ihm. Sie mögen unterschiedliche
Rollen in der "Resistencia" haben. Aber in erster Linie sind sie Brüder.
An
diesem 65. Tag der Unruhen gehen die Regierungstruppen in ihrer
Brutalität weiter als bisher. Maduro hat angewiesen, die Proteste
innerhalb von acht Tagen zu beenden. Die Nationalgardisten beklauen nun
ältere Frauen. Sie rauben Motorräder und Kameras der Reporter. Aber sie
bedenken eines nicht: Die Aufnahmen gehen in die sozialen Netze und um
die Welt.
Wenn sich Jo und Miguel einig sind, dann darin: Dieser
Kampf wird täglich neu gewonnen, vor allem auf Twitter und Facebook. Den
traditionellen venezolanischen Medien glaubt keiner mehr. Sie sind fast
alle in der Hand des Staats.
Polizeieinheiten auf Motorrädern gehen mit brutaler Gewalt gegen die Menschen vor. Die Luft ist geschwängert von Tränengas
Familienväter wühlen im Müll Am folgenden Abend kommen Jo, Miguel und
die Anführer der Demokratiebewegung zu einem öffentlichen
Strategietreffen auf der Plaza Miranda zusammen. Es läuft Salsa und
Merengue, ein lauer Wind weht von den Bergen, die Abendsonne setzt den
Platz in tropisches Licht. Ein kurzer Moment scheinbarer Harmonie.
Direkt
nebenan am Shoppingzentrum aber wühlen Männer im Müll. Es sind nicht
Bettler, sondern Familienväter. Viele Geschäfte sind verwaist, und jene,
die noch offen sind, verkaufen Badelatschen zum Preis eines
Monatseinkommens – und ein iPhone zum Preis von zehn Jahreseinkommen. In
den Mangobäumen im Park klettern nicht Kinder, sondern Erwachsene, die
das Abendessen ernten. Kein Staat der Welt ist so tief gestürzt wie
Venezuela, das Land mit den größten Erdölvorkommen. Der Staat nutzte den
Reichtum für den sinnvollen Ausbau der Sozialprogramme, enteignete aber
Privatbetriebe und vernachlässigte die Herstellung von Lebensmitteln
und Alltagsprodukten. Mit dem Fall der Ölpreise stand Venezuela
plötzlich ohne Devisen, Lebensmittel und Medikamente da. "Wir sind ein
Land auf der Intensivstation", sagt Miguel.
Miguel ist zum ungewöhnlichen Helden der Aufstände geworden
Die
Frage für die Bürgerrechtler an diesem Abend ist: Wie zwingen wir
dieses hochgerüstete Regime in die Knie? Die Sowjetunion hatte
Gorbatschow, die DDR den Fall der Mauer. Maduro hat eine Art
Narco-Diktatur errichtet. Er sagte Wahlen ab und entmachtete das
Parlament, Oppositionelle steckt er in den Knast. Seine
Familienmitglieder stehen wegen Drogenschmuggels in den USA vor Gericht.
Als
letzter Redner des Abends spricht Miguel. Schon ist es dunkel, die
Leute wollen nach Hause, sie haben Angst vor den weit verbreiteten
Kidnappings. Miguel ist zum ungewöhnlichen Helden der Aufstände
geworden, ein tätowierter Hipster mit dicken Brillengläsern. Jeden Tag
geht der Abgeordnete mit den Menschen auf die Straße. Jeden Tag mit
Angst, dass ihn eine Kugel trifft. "Aber größer ist meine Angst, dass
unsere Kinder weiter hungern, dass unsere Eltern ohne Medikamente
sterben, dass wir in einem totalitären Staat leben. Lasst uns nicht
Opfer sein. Lasst uns die Protagonisten unserer Befreiung sein", ruft
er. Die letzten Worte gehen im Jubel unter.
Eine Regimegegnerin versorgt erschöpfte Frontkämpfer mit Essen
Wie Jo hat auch Miguel einen langen Weg hinter sich. Während Jo vom
Bandenmitglied zum Sozialarbeiter wurde, wurde Miguel vom Kommunisten
zum Anti-Chavista. Seine Eltern waren Kommunisten und landeten im
Gefängnis. Er flog von der Schule, weil er zu politisch war. Mit 21 zog
er als einer der jüngsten Abgeordneten ins Parlament ein. Wenn die
Kindheit ihn etwas gelehrt hat, dann das: Misstraue den Autoritäten,
egal, welcher Couleur.
Miguel setzt auf einen Dreistufenplan: die
Protestmärsche erweitern. Den internationalen Druck erhöhen. Das Militär
auf seine Seite ziehen. "Seid keine Komplizen der Verbrecher!", ruft er
ihnen zu. "Lasst nicht zu, dass sie uns töten. Auch eure Söhne sind auf
der Straße."
"Die Militärs reagieren nur, wenn sie merken, es geht ihnen an den Kragen"
Miguel
erhält Standing Ovations. Das ist sein Element: die Bühne. Die Worte.
Jos Element ist die Front. Er steht etwas abseits, voller Bewunderung –
und voller Zweifel. "Miguel ist großartig", sagt er. "Unser zukünftiger
Präsident." Seine Strategie aber sieht er kritisch. "Die Militärs
reagieren nur, wenn sie merken, es geht ihnen an den Kragen. Die
brauchen Druck. Pazifismus und Tralala reichen da nicht."
Der
nächste Tag, Tag 67, beginnt voller Hoffnung. Trotz der
Einschüchterungen und des starken Regens gehen abermals mehr als
Hunderttausend auf die Straße. Passanten schließen sich spontan an,
Arbeiter in der Mittagspause, Krankenschwestern in Uniformen. Doch die
Sicherheitskräfte zerschlagen die Demo auf brutalste Weise, panikartig
fliehen die Menschen durch die Straßen, ein 17-jähriger Schüler
verblutet, Neomar Lander.
Die Regierung sagt: Lander wollte eine Bombe werfen. Die Opposition sagt: Lander wurde gezielt mit Tränengas beschossen.
Miguel
trägt den Jungen mit aus der Gefechtszone und tröstet die Freunde. Dann
bricht er zusammen und weint. Zum ersten Mal in diesen sieben Tagen
sehen wir Miguel Pizarro am Boden. Die Regierung wird ihn am Abend einen
"Mörder" nennen, weil er junge Menschen aufhetze.
Jo ist im
Getümmel verschwunden und taucht aus Sicherheitsgründen unter. Erst am
Abend meldet er sich: "Ich bin am Leben." Am nächsten Tag zieht er durch
seinen hügeligen Slum Petare. Die Sonne brennt, am Himmel kreisen
Helikopter des Militärs. Er geht von Tür zu Tür und versucht, Chavistas
und Gangs für den Kampf einzuspannen. "Ihr hungert doch auch", sagt er.
"Ihr habt die Härte für den Kampf." Jo ist jetzt eine Art Rekruteur. Er
glaubt: Nur wenn die Hügel hinabsteigen, fällt das Regime.
Miguel
trifft sich mit den Eltern des getöteten Lander und tritt danach vor die
Kameras. Er ist 29 und muss der Tröster der Nation sein. Er bebt vor
Trauer und Wut, ruft aber zu einem friedlichen Gedenkmarsch auf. Es muss
weitergehen. Er glaubt: Nur wenn sich das gesamte Volk anschließt,
fällt das Regime.
So vergeht Tag 68 für Jo und Miguel, noch mal härter als der vorige. Morgen sind sie wieder gemeinsam auf der Straße.
Die Reportage über Venezuela ist dem aktuellen stern entnommen:
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