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Mittwoch, 21. Oktober 2015

Die Scheinheiligkeit des Westens


Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das erste Kind auf der Route erfriert.
Das Mädchen und ihre Mutter sind auf dem Weg, um die Grenze zu Serbien zu überqueren.

Wir sind zurück. Es regnet und ich kaufe eine neue Weste. Während ich, in die neue Daunenweste gehüllt im Café sitze, frage ich mich, ob es die Familie, der ich meine alte Weste gab, mittlerweile an ihr Ziel geschafft hat? Oder stehen sie noch immer an einer der unsäglichen Registrierungsstellen an Europas Grenzen und frieren?
Am Wochenende passierte, was passieren musste: Ungarn schloss seine Grenze zu Kroatien. Der Balkan wurde zum Nadelöhr. Als Transitländer sind Mazedonien, Serbien und Kroatien nicht darauf ausgelegt tausende Menschen täglich unterzubringen. Wieder habe ich die Bilder frierender Flüchtlingsfamilien im Niemandsland vor Augen, die samt Kindern im Freien übernachten müssen. Die Temperaturen sind seit ich den Balkan verlassen habe, um gut 10 Grad gefallen.



Es ist eine Frage der Zeit, bis das erste Kind erfriert

Wir diskutieren unterdessen im Warmen über die Misere. Meine Freunde erzählen, dass sie erschrocken sind, weil selbst in ihrem Freundeskreis, die Stimmungsmache gegen Flüchtlinge Einzug hält. Mich macht das unruhig. Denn es ist kein großes Geheimnis, dass es Tote geben wird, wenn sich die Lage nicht bald entspannt. Sitzen die Menschen auf dem Balkan fest und schaffen es die Länder nicht, Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das erste Kind erfriert.
In Deutschland reden wir bis dahin noch darüber, ob wir 1,5 Millionen Menschen auf eine Bevölkerung von knapp 80 Millionen gerechnet, wirklich bewältigen können, oder ob es unseren wirtschaftlichen und kulturellen Untergang bedeuten wird. Das ist zynisch. „Sollen sie doch in der Türkei und im Libanon bleiben“, werden mir Kritiker jetzt entgegenschmettern. „Da ist es doch sicher.“ Doch unter welchen Umständen leben die Menschen dort? Die Kinder können nicht zur Schule gehen, die Eltern dürfen nicht arbeiten. Viele wohnen in Zelten und auch dort wird es demnächst kalt. Diese Flüchtlingslager waren als kurzfristige Übergangslösung gedacht. Doch der Übergang dauert für viele schon über vier Jahre an. Und eines ist klar: Selbst wenn Angela Merkel bei ihren Verhandlungen mit der Türkei Erfolg hat, wird eine Änderung der Zustände Zeit brauchen und aktuell wird auch dem Krieg in Syrien kein schnelles Ende vorhergesagt.

Deutschland hat zu lange zugesehen

Während meiner Reise erhielt ich gleich mehr Sympathiepunkte, sobald die Leute erfuhren, dass ich Deutsche bin. Aber können wir uns wirklich mit der Aufnahme von Flüchtlingen rühmen? Ist das nicht eher Scheinheiligkeit? Ich sehe es eher als unsere humanitäre Pflicht, Hilfesuchende aufzunehmen. Denn wir können uns nicht auch aus der Verantwortung stehlen.
Als weltweit drittgrößter Waffenlieferant trägt Deutschland zur Verlängerung der Krise im Nahen und Mittleren Osten bei. Auch in Punkto Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern haben wir nicht nachhaltig und entschlossen agiert. Die Wahrheit ist: Wir haben nicht einmal den zugesagten Teil der Gelder bereitgestellt. Gleiche Zögerlichkeit gilt für die Bekämpfung des Klimawandels.
Seien wir doch mal ehrlich: Wir haben über Jahre der Entwicklung zugeschaut. Wir wussten doch, dass wir mit unserem Treiben die Menschen in den südlichen Ländern irgendwann zum Handeln, sprich zum Weggehen, zwingen werden. Dass die Lieferung von Waffen sicher nicht zum Weltfrieden beiträgt, war klar. Aber wir haben es billigend in Kauf genommen.

Es ist ein Wettlauf mit der Zeit

Ja, die Welt scheint gerade aus dem Lot zu geraten und deshalb müssen wir jetzt unseren Teil der Verantwortung übernehmen und den Menschen, die schutzbedürftig sind, helfen. Da bin ich tatsächlich auch bei unserer Kanzlerin. Ich glaube nicht, dass wir eine großartig andere Wahl haben. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass wir es (natürlich nicht im Alleingang) schaffen können und müssen.
Unsere Aufgaben: Kurzfristige Hilfe für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, Stopp von Waffenlieferungen an Länder wie z.B. Saudi Arabien etc. und nachhaltige und entschlossene Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern.
Während ich diese Zeilen schreibe, arbeiten meine Kollegen entlang der Flüchtlingsrouten auf Hochtouren, um Flüchtlingskinder und Eltern gegen die Kälte zu schützen. Ich kann nur hoffen, dass sie den Wettlauf mit der Zeit gewinnen.

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