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Samstag, 5. September 2015

 Samstag, 05. September 2015
Tausende Menschen verlassen Ungarn Flucht aus Europas asylpolitischem Hinterhof

Von Issio Ehrich

Zu Tausenden verlassen Flüchtlinge Ungarn. Die meisten wollen nach Deutschland. Doch am wichtigsten ist ihnen, raus aus dem osteuropäischen Staat zu kommen. Das liegt nicht nur an der Lage am Keleti-Bahnhof.

  

Sonderzüge erreichen Deutschland: Ungarn bringt Flüchtlinge zur österreichischen Grenze 05.09.15 – 01:14 min Mediathek Sonderzüge erreichen Deutschland Ungarn bringt Flüchtlinge zur österreichischen Grenze

Verwunderlich ist das nicht. Die vergangenen Tage führten der Welt vor Augen, wie Ungarn mit Flüchtlingen umspringt. Tagelang verharrten rund 3000 Menschen auf dem Budapester Keleti-Bahnhof. Kinder übernachteten in Gepäckanlagen. Es gab kaum Wasser, viel zu wenige, völlig verdreckte Toiletten. Und der ungarischen Politik war das offensichtlich egal. Sie tat nichts, um die Lage der Menschen zu verbessern.

Die Szenen vom Bahnhof Keleti sind allerdings nur ein Ausschnitt. Ungarn ist der asylpolitische Hinterhof Europas. Während es Flüchtlingen in Italien oder Griechenland vor allem schlecht geht, weil die Staaten mit der Zahl der Menschen vollkommen überfordert sind, kommen in Ungarn in besonderem Maße Rassismus, perfide Abschreckungs-Strategien und damit verbunden eine bewusste Missachtung von Menschenrechten hinzu.
Beruhigungsmittel bis zur Abhängigkeit

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR verurteilt schon seit Jahren die ungarische Asylpolitik. 2012, nach einer Reform des Asylrechts, veröffentlichte die Organisation einen erschreckenden Bericht. Die zentralen Ergebnisse:

    Ungarn inhaftiert Asylsuchende und steckt sie in gefängnisähnliche Anlagen, und das mitunter bis zum Abschluss des Asylverfahrens. Dabei unterscheiden die Behörden nicht zwischen Schutzbedürftigen und illegal Eingereisten.
    Selbst Kinder kommen in Abschiebehaft.
    Asylbewerbern werden bei Behördengängen Handschellen angelegt.
    Inhaftierten Flüchtlingen werden systematisch Beruhigungsmittel verschrieben, die in einigen Fällen zu Abhängigkeiten geführt haben.
    Es kommt immer wieder zu Misshandlungen und Beleidigungen durch Wachpersonal.

Die Situation hat sich seither offenbar kaum verbessert. Im Juni warf UNHCR dem Land angesichts des Baus eines vier Meter hohen und mehr als 170 Kilometer langen Grenzzauns zu Serbien vor, Flüchtlingen das Recht auf ein faires Asylverfahren zu verwehren. Die ungarische Wohlfahrtsorganisation Age of Hope veröffentlichte kürzlich Bilder von Flüchtlingskindern, die in Käfige gesperrt wurden. Und die Bilder vom Keleti-Bahnhof untermauern dieses Bild.

Etliche Gerichte in Deutschland stoppten wegen der verheerenden Zustände in Ungarn bereits Abschiebungen in das EU-Land. Das Kölner Verwaltungsgericht sorgte vor wenigen Tagen für die erste abgelehnte Ausweisung in einem Hauptverfahren. Im Urteil klagt die Kammer über unzureichende Hygiene-Standards in Flüchtlingslagern und völlig unzureichende Aufnahmekapazitäten. Bei 70.000 Flüchtlingen im ersten Halbjahr 2015 standen demnach nur 2500 Plätze in Unterkünften zur Verfügung.
Herr Orbán hat da mal eine Frage


Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán macht kein Geheimnis daraus, dass er Abschreckung für ein legitimes Mittel für die Kontrolle von Flüchtlingsströmen hält. Zuletzt sagte er über das Flüchtlingsdrama auf dem Kontinent: "Das Problem ist nicht europäisch. Das Problem ist deutsch." Er warf der Bundesrepublik vor, durch ihre Willkommenskultur und insbesondere die Ankündigung, Syrer nicht abzuschieben, unnötige Anreize zu schaffen.

Laut eines Berichts des Ausschusses gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats (ECRI) grassiert zudem Fremdenfeindlichkeit in Ungarns Behörden und Gesellschaft. Nicht nur rechtsextreme Trupps betreiben Stimmungsmache und greifen Flüchtlinge physisch an, sondern auch Vertreter der Staatsmacht. Auch Regierungschef Orbán trägt zur rassistischen Hetze bei. Im Mai sorgte er mit einem Fragebogen für Aufsehen. Der Zettel war vollgestopft mit Suggestivfragen wie: "Finden Sie nicht auch, dass sich die Regierung mehr um Familien und Kinder kümmern sollte als um Zuwanderer?" Orbán ließ acht Millionen dieser Bögen verteilen. Einen Monat später legte er mit einer Plakatserie für Neuankömmlinge nach. Auf einem Motiv hieß es: "Wenn du nach Ungarn kommst, darf du den Ungarn keine Arbeitsplätze wegnehmen." Zuletzt riet Orbán davon ab, Muslime in die Gesellschaft zu integrieren.

Quelle: n-tv.de

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