Mangelwirtschaft und Inflation zermürben Venezuela. Auch die
deutschen Einwanderer leiden unter der Krise. Ein Besuch in Colonia
Tovar, wo Deutsche jahrzehntelang gerne hinzogen.
07.12.2015,
von
Matthias Rüb, Colonia Tovar
Ulrich
Thal ist zäh. Das muss er trotz seiner inzwischen 69 Jahre auch sein.
Denn er ist Privatunternehmer in Venezuela, wo der im März 2013
gestorbene Revolutionsführer und langjährige Präsident Hugo Chávez
schon vor gut anderthalb Jahrzehnten den „Sozialismus des 21.
Jahrhunderts“ verkündet hat. An dessen Aufbau werkeln Chávez’
Amtsnachfolger Nicolás Maduro und die Sozialisten, die am Sonntag nach
16 Jahren an der Regierung zum erstem Mal wieder eine Parlamentswahl verloren haben, bis heute.
Autor: Matthias Rüb, Korrespondent für Lateinamerika mit Sitz in São Paulo.
Das venezolanische Gesellschaftsmodell will
nichts weniger sein als eine globale Alternative zum neoliberalen
Kapitalismus, der bekanntlich auf Ausbeutung beruht, die soziale
Ungerechtigkeit zementiert und dazu den Planeten zerstört. Doch mit dem
Modellstaat Venezuela sieht es derzeit nicht so gut aus. Wie genau es um
ihn steht, ist schwer zu sagen, denn die Regierung in Caracas
veröffentlicht seit fast einem Jahr zum Beispiel keine offiziellen
Zahlen mehr zur Teuerungsquote. Unter Ökonomen ist aber unstrittig, dass
Venezuela in diesem Jahr einen Weltrekord bei der Inflation aufstellen
wird.350 fromm-fleißige Alemannen
Von Reis, Mehl und Butter über Wasch- und Reinigungsmittel bis zu Toilettenpapier und Hygieneartikeln ist fast alles knapp oder nur zu überhöhten Preisen auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Viele Lebensmittel sind rationiert, stundenlang in Warteschlangen zu stehen ist zum unfreiwilligen Volkssport geworden.© Matthias Rüb Der aus Düsseldorf stammende deutsche Unternehmer Ulrich Thal vor seinem Reisebüro „Regenwald“
Wie hält man in so einem Umfeld als Unternehmer durch? „Wir wursteln uns eben durch“, sagt Ulrich Thal. 1949 kam er als Kleinkind mit seinen Eltern aus Deutschland nach Venezuela. Sie ließen sich nach kurzem Aufenthalt in Caracas in Colonia Tovar nieder. Der pittoreske Ort mit heute 14.000 Einwohnern, knapp anderthalb Autostunden westlich von Caracas auf 1800 bis 2000 Meter Höhe gelegen, ist nicht zufällig zum Magnet für deutsche Einwanderer vieler Generationen geworden. Gegründet wurde die „Kolonie Tovar“ 1843 durch eine Landschenkung von Manuel Felipe de Tovar (1803 bis 1866) an deutsche Einwanderer vom Kaiserstuhl. Tovar, von 1859 bis 1861 Präsident Venezuelas, war ein Nachfahr spanischer Kolonisten und hatte mehr als genug Land, um ein paar hundert Hektar davon einer Gruppe von gut 350 fromm-fleißigen Alemannen zu stiften. Die Obst- und Gemüsebauern machten aus ihrer Kolonie ein wohlhabendes Gemeinwesen, blieben unter sich und sprachen Alemannisch, bauten Fachwerkhäuser und feierten die Fastnacht wie einst daheim am Kaiserstuhl.
„Aber 2015 ist ganz schlimm“
Heute ist Colonia Tovar ein beliebtes Ausflugsziel für die Leute aus Caracas, die hier oben die kühle Luft und das kalte Bier, die gute Wurst und das saure Kraut schätzen. Und vielleicht einen Ausflug bei „Regenwald Tours“ buchen, denn die betreibt Ulrich Thal. „Bis vor drei, vier Jahren habe ich auch noch landwirtschaftliche Geräte und Maschinen importiert, aber das lohnt sich nicht mehr“, sagt er. Das Durcheinander der vier offiziellen Wechselkurse der Landeswährung Bolívar zum Dollar, die Bürokratie und die Korruption, die Rezession und die Inflation machten ein kalkulierbares Wirtschaften unmöglich, klagt er. Die Sommerfrischler hat er früher mit elf österreichischen Pinzgauer-Geländefahrzeugen durch den Regenwald oder bis hinunter nach Puerto Cruz an die Karibik-Küste kutschiert. „Heute laufen nur noch vier meiner Pinzgauer, die anderen muss ich als Ersatzteillager ausschlachten, denn ich bekomme nirgendwo Reifen, Batterien oder sonstige Ersatzteile.“Früher sei noch mancher ausländische Tourist nach Colonia Tovar zu Trekking- oder Mountainbike-Touren gekommen, heute habe er nur noch einheimische Kundschaft, sagt Thal. Seit dem Machtantritt der Sozialisten unter Chávez sei es nie leicht gewesen für Unternehmer, Behördenwillkür und die Sorge vor Enteignungen seien ständige Begleiter gewesen. „Aber 2015 ist ganz schlimm“, sagt Thal.
Matthias Rüb Der aus Sachsen stammende deutsche Metzger Günter Hubrig in seiner Wurstfabrik
Auch Metzgermeister Günter Hubrig denkt in letzter Zeit öfter ans Aufhören. Nicht weil er mit seinen 73 Jahren genug hätte von Wurst und Fleisch. Wenn er an der neuen Wurstmaschine aus Deutschland steht, die weiße Bratwürste im Sekundentakt ausstößt, sieht man dem lebensfrohen Meister die Leidenschaft für sein Handwerk an. Backen kann Metzger Hubrig auch, am vergangenen Wochenende etwa gut 80 Dresdner Christstollen. „Die Arbeit macht mir noch immer Spaß“, sagt er und wischt sich die Hände an der Schürze ab: „Aber es wird immer schwieriger, die nötigen Zutaten zu bekommen, Pfeffer zum Beispiel oder Gewürze.“ 1980 ist der Sachse aus der Lausitz auf einer Lateinamerikareise in Venezuela hängengeblieben und in Colonia Tovar gelandet.
Innerlich schon auf dem Absprung
Vor 20 Jahren hat er sich selbständig gemacht, seine Wurstfabrik hat er seither ständig vergrößert. Heute produziert er mit einem halben Dutzend Angestellten drei Tonnen Wurst die Woche. Abnehmer sind überwiegend Hotels und Restaurants von Colonia Tovar bis zur Küste. Privatkunden kommen nur noch selten: „Die Leute haben kein Geld mehr“, sagt Hubrig. Kürzlich hat sich ein Kaufinteressent für seine Wurstfabrik „Embutidos Gunter“ gemeldet: „Mit dem treffe ich mich nächste Woche, der muss nur einen anständigen Preis bieten.“Abner Then ist erst 23 Jahre alt, aber innerlich auch schon auf dem Absprung. Der Geschichtsstudent ist kein Zugereister wie Thal oder Hubrig, sondern in fünfter Generation Nachfahre einer alemannischen Kolonistenfamilie. Er spricht Spanisch, Alemannisch und Deutsch. Sein Studium in Caracas musste er abbrechen, es war kein Geld mehr dafür da. Jetzt unterstützt er seine Eltern und verkauft auf dem Kirchplatz Obst und Gemüse aus eigenem Anbau, selbstgebackenes Brot und Weihnachtsgebäck. Wohin würde er gehen, wenn er könnte? „Deutschland“, sagt Abner Then.
Frankfurter Allgemeine
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