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Freitag, 14. Juni 2019

Gefängnis in Uruguay macht Häftlinge zu Unternehmern


14.6.2019 - 00:00, Leonardo Haberkorn, AP
Ein Insasse des alten Gefängnisses von Punta de Rieles, einem Stadtteil von Montevideo, arbeitet an seinem Laptop.
Bild: Matilde Campodonico/AP/dpa
Gefängnisse in Lateinamerika haben keinen guten Ruf. Umso mehr ragt eine Haftanstalt in Uruguay heraus. Sie bietet Insassen die Chance zu einem produktiven Leben – im wahrsten Sinne des Wortes.
Rolando Bustamento betrachtet seine Angestellten bei der Arbeit, sieht, wie sie einen Betonblock nach dem anderen produzieren. Ab und zu wirft er einen Blick auf sein elektronisches Tablet, das Kundenbestellungen festhält und Kontakte zu Zulieferern ermöglicht.
Alles sieht so aus wie in einer normalen Fabrik – aber diese Produktionsstätte in Uruguay ist alles andere als gewöhnlich. Sie liegt im alten Gefängnis von Punta de Rieles, einem Stadtteil von Montevideo, und Bustamente ist nicht nur ein Unternehmer: Er ist auch ein Häftling, verbüsst derzeit die letzten zwei von 21 Jahren Strafe wegen Körperverletzung.

Insassen als Firmgründer

Die Fabrik ist eines von Dutzenden Unternehmen in der Haftanstalt und Teil eines ungewöhnlichen Experiments. Insassen hier gründen Firmen, beschäftigen Mithäftlinge und haben Kunden innerhalb und ausserhalb der Anstalt. Es gibt zum Beispiel Bäckereien, Friseurläden, ein Süsswarengeschäft und eine Tischlerei – entlang von Strassen, auf denen sich Insassen mit Gefängnisbeamten und Polizisten mischen.
Ein Mann trägt eine Begonie, die er in einer von einem Mithäftling betriebenen Gärtnerei gekauft hat – ein Geschenk für seine Mutter, wenn sie auf Besuch kommt. Nicht weit entfernt bringt ein zum Bäcker gewordener Insasse einen Geburtstagskuchen zum Gefängniseingang, wo ein Kunde wartet.
Insgesamt 510 Häftlinge gibt es hier, von verurteilten Dieben und Schlägern bis hin zu Kidnappern und Mördern. 382 arbeiten und 246 studieren – und manche tun beides. Nur ein paar Dutzend nutzen die Gelegenheit nicht, die sich ihnen hier bietet, und nach zwei Jahren werden sie in ein traditionelles Gefängnis verlegt.
Das Experiment von Punta de Rieles ermöglicht es den Häftlingen, sich als Unternehmer zu betätigen und Verantwortung zu übernehmen.
Bild: Matilde Campodonico/AP/dpa
Das Experiment in Punta de Rieles ragt schon deshalb ganz besonders heraus, weil die Haftanstalten in Lateinamerika insgesamt einen wenig guten Ruf haben. Aber es ist wohl auch weltweit beispielhaft. Juan Miguel Petit, der im Auftrag des uruguayischen Kongresses Gefängnisangelegenheiten überwacht, sagt, dass er Dutzende Gefängnisse in Amerika und Europa kenne – aber Punta de Rieles sei einzigartig.

Bessere Chancen für das Leben danach

Der Wert liegt nach seinen Worten darin, dass dort ein soziales Leben wie draussen produziert werde. Und das erhöhe die Chancen, «dass die Menschen, die das Gefängnis verlassen, harmonisch mit anderen umgehen.»
Auch Gefängnisdirektor Luis Parodi glaubt nicht, dass irgendwo anders eine Haftanstalt dieser Art existiert. «Das hier ist die Synthese von 30 Jahren Arbeit, Lesen, Erfahrungen und Fehlschlägen», sagt er.
Das Projekt begann gegen Ende 2012, Parodi war zuerst stellvertretender Direktor und rückte dann 2015 auf. Der Mann selber ist fast so ungewöhnlich wie die Einrichtung: Er war einst ein Mitglied der Guerilla-Bewegung Tupamaro, die 1972 besiegt wurde, und verbrachte später mehr als zehn Jahre im Exil, in Europa und Lateinamerika.
Parodi ist fest davon überzeugt, dass Gefangene, die arbeiten, studieren, ein Handwerk lernen oder ein Unternehmen starten ein besseres Leben haben werden – mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit, ein weiteres Mal straffällig zu werden. «Es hat sich überall gezeigt, dass Gefangenschaft Menschen nicht ändert. Die Idee hier ist, reale Bedingungen zu schaffen. Wenn etwas scheitert, dann scheitert es. Wie in der realen Welt.»
Das Geld für den Start von Unternehmen kommt von den Familien der Insassen oder von der Art Bank hinter den Mauern, die von den Häftlingen weitgehend selber betrieben wird. Zehn Prozent der Profite gehen in den Fonds zurück, zehn Prozent an die Regierung als Gebühr für die Nutzung der Einrichtungen und weitere zehn an eine Vereinigung von Verbrechensopfern. Der Rest fliesst auf die Konten der Häftlinge, die dann nach ihrer Freilassung voll über das Geld verfügen können.

Ex-Häftlinge kommen freiwillig

Besonders erfolgreich ist eine Bäckerei, die von zwei Gefangenen eröffnet wurde. Sie halten sie auch nach ihrer Entlassung weiter am Laufen, und mittlerweile sind dort bis zu 70 Menschen angestellt. Die Ex-Häftlinge selber kommen fast jeden Tag ins Gefängnis – diesmal freiwillig.
Es gibt natürlich auch Herausforderungen. So hat die Gefängnispolizei oft ihre Probleme damit, mit Häftlingen als Unternehmern umzugehen. Manchmal würden beispielsweise Lastwagen mit Lieferungen für sein Unternehmen bei der Ankunft behindert, sagt Bustamente.
Und Parodi räumt ein, dass einige Häftlinge – wenn auch wenige – die beachtlichen Freiheiten missbraucht hätten, die sie in Punta de Rieles geniessen. Die Gefangenen dürfen Vereinigungen wie Gewerkschaften bilden, haben ein Telefon, sie können das Internet benutzen, mit der Aussenwelt kommunizieren – und sogar einen Hund besitzen.
Alles ist also so völlig anders als in den anderen Gefängnissen Lateinamerikas. Die meisten dort seien «Warenhaus-Orte mit sehr harschen Bedingungen für Insassen, sie sind sehr unsicher sowohl für Insassen als auch für das Gefängnispersonal, und sie sind im Grunde Schulen für Verbrechen», beschreibt Kriminologe Yvon Dandurand vom Internationalen Zentrum für Strafrechtsreform die allgemeinen Zustände.
Mauro Rodriguez ist ein Beispiel dafür, wie das Experiment erfolgreich funktionieren soll. Er hält sich im Gefängnis auf, aber diesmal nur auf Besuch – zum Reparieren einer Maschine zur Anfertigung von Zementblöcken, die er baute, als er selber mehrere Jahre in Punta de Rieles einsass. Rodriguez betreibt jetzt am Rande von Montevideo ein eigenes Unternehmen als Schmied.
Er war früher Mitglied einer Bande von Drogenhändlern, und vier seiner einstigen Freunde sind jetzt tot, erzählt er. «Ohne Punta de Rieles», so Rodriguez, «wäre ich es auch.»

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