Gefängnisse
in Lateinamerika haben keinen guten Ruf. Umso mehr ragt eine
Haftanstalt in Uruguay heraus. Sie bietet Insassen die Chance zu einem
produktiven Leben – im wahrsten Sinne des Wortes.
Rolando
Bustamento betrachtet seine Angestellten bei der Arbeit, sieht, wie sie
einen Betonblock nach dem anderen produzieren. Ab und zu wirft er einen
Blick auf sein elektronisches Tablet, das Kundenbestellungen festhält
und Kontakte zu Zulieferern ermöglicht.
Alles sieht so aus wie in
einer normalen Fabrik – aber diese Produktionsstätte in Uruguay ist
alles andere als gewöhnlich. Sie liegt im alten Gefängnis von Punta de
Rieles, einem Stadtteil von Montevideo, und Bustamente ist nicht nur ein
Unternehmer: Er ist auch ein Häftling, verbüsst derzeit die letzten
zwei von 21 Jahren Strafe wegen Körperverletzung.
Insassen als Firmgründer
Die
Fabrik ist eines von Dutzenden Unternehmen in der Haftanstalt und Teil
eines ungewöhnlichen Experiments. Insassen hier gründen Firmen,
beschäftigen Mithäftlinge und haben Kunden innerhalb und ausserhalb der
Anstalt. Es gibt zum Beispiel Bäckereien, Friseurläden, ein
Süsswarengeschäft und eine Tischlerei – entlang von Strassen, auf denen
sich Insassen mit Gefängnisbeamten und Polizisten mischen.
Ein
Mann trägt eine Begonie, die er in einer von einem Mithäftling
betriebenen Gärtnerei gekauft hat – ein Geschenk für seine Mutter, wenn
sie auf Besuch kommt. Nicht weit entfernt bringt ein zum Bäcker
gewordener Insasse einen Geburtstagskuchen zum Gefängniseingang, wo ein
Kunde wartet.
Insgesamt
510 Häftlinge gibt es hier, von verurteilten Dieben und Schlägern bis
hin zu Kidnappern und Mördern. 382 arbeiten und 246 studieren – und
manche tun beides. Nur ein paar Dutzend nutzen die Gelegenheit nicht,
die sich ihnen hier bietet, und nach zwei Jahren werden sie in ein
traditionelles Gefängnis verlegt.
Das
Experiment in Punta de Rieles ragt schon deshalb ganz besonders heraus,
weil die Haftanstalten in Lateinamerika insgesamt einen wenig guten Ruf
haben. Aber es ist wohl auch weltweit beispielhaft. Juan Miguel Petit,
der im Auftrag des uruguayischen Kongresses Gefängnisangelegenheiten
überwacht, sagt, dass er Dutzende Gefängnisse in Amerika und Europa
kenne – aber Punta de Rieles sei einzigartig.
Bessere Chancen für das Leben danach
Der
Wert liegt nach seinen Worten darin, dass dort ein soziales Leben wie
draussen produziert werde. Und das erhöhe die Chancen, «dass die
Menschen, die das Gefängnis verlassen, harmonisch mit anderen umgehen.»
Auch
Gefängnisdirektor Luis Parodi glaubt nicht, dass irgendwo anders eine
Haftanstalt dieser Art existiert. «Das hier ist die Synthese von 30
Jahren Arbeit, Lesen, Erfahrungen und Fehlschlägen», sagt er.
Das
Projekt begann gegen Ende 2012, Parodi war zuerst stellvertretender
Direktor und rückte dann 2015 auf. Der Mann selber ist fast so
ungewöhnlich wie die Einrichtung: Er war einst ein Mitglied der
Guerilla-Bewegung Tupamaro, die 1972 besiegt wurde, und verbrachte
später mehr als zehn Jahre im Exil, in Europa und Lateinamerika.
Parodi
ist fest davon überzeugt, dass Gefangene, die arbeiten, studieren, ein
Handwerk lernen oder ein Unternehmen starten ein besseres Leben haben
werden – mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit, ein weiteres Mal
straffällig zu werden. «Es hat sich überall gezeigt, dass Gefangenschaft
Menschen nicht ändert. Die Idee hier ist, reale Bedingungen zu
schaffen. Wenn etwas scheitert, dann scheitert es. Wie in der realen
Welt.»
Das Geld für
den Start von Unternehmen kommt von den Familien der Insassen oder von
der Art Bank hinter den Mauern, die von den Häftlingen weitgehend selber
betrieben wird. Zehn Prozent der Profite gehen in den Fonds zurück,
zehn Prozent an die Regierung als Gebühr für die Nutzung der
Einrichtungen und weitere zehn an eine Vereinigung von
Verbrechensopfern. Der Rest fliesst auf die Konten der Häftlinge, die
dann nach ihrer Freilassung voll über das Geld verfügen können.
Ex-Häftlinge kommen freiwillig
Besonders
erfolgreich ist eine Bäckerei, die von zwei Gefangenen eröffnet wurde.
Sie halten sie auch nach ihrer Entlassung weiter am Laufen, und
mittlerweile sind dort bis zu 70 Menschen angestellt. Die Ex-Häftlinge
selber kommen fast jeden Tag ins Gefängnis – diesmal freiwillig.
Es
gibt natürlich auch Herausforderungen. So hat die Gefängnispolizei oft
ihre Probleme damit, mit Häftlingen als Unternehmern umzugehen. Manchmal
würden beispielsweise Lastwagen mit Lieferungen für sein Unternehmen
bei der Ankunft behindert, sagt Bustamente.
Und
Parodi räumt ein, dass einige Häftlinge – wenn auch wenige – die
beachtlichen Freiheiten missbraucht hätten, die sie in Punta de Rieles
geniessen. Die Gefangenen dürfen Vereinigungen wie Gewerkschaften
bilden, haben ein Telefon, sie können das Internet benutzen, mit der
Aussenwelt kommunizieren – und sogar einen Hund besitzen.
Alles
ist also so völlig anders als in den anderen Gefängnissen
Lateinamerikas. Die meisten dort seien «Warenhaus-Orte mit sehr harschen
Bedingungen für Insassen, sie sind sehr unsicher sowohl für Insassen
als auch für das Gefängnispersonal, und sie sind im Grunde Schulen für
Verbrechen», beschreibt Kriminologe Yvon Dandurand vom Internationalen
Zentrum für Strafrechtsreform die allgemeinen Zustände.
Mauro
Rodriguez ist ein Beispiel dafür, wie das Experiment erfolgreich
funktionieren soll. Er hält sich im Gefängnis auf, aber diesmal nur auf
Besuch – zum Reparieren einer Maschine zur Anfertigung von
Zementblöcken, die er baute, als er selber mehrere Jahre in Punta de
Rieles einsass. Rodriguez betreibt jetzt am Rande von Montevideo ein
eigenes Unternehmen als Schmied.
Er
war früher Mitglied einer Bande von Drogenhändlern, und vier seiner
einstigen Freunde sind jetzt tot, erzählt er. «Ohne Punta de Rieles», so
Rodriguez, «wäre ich es auch.»
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