Zur Stunde wird die brasilianische Präsidentin Dilma
Rousseff rausgeworfen. Fünf Fragen und Antworten zu dem
Amtsenthebungsverfahren und den Folgen
1. Ist Dilma Rousseff jetzt weg vom Fenster?
Vorläufig ja. Der Oberste Gerichtshof hat am heutigen Mittwoch einen Einspruch Dilma Rousseffs gegen die geplante Absetzung
abgelehnt. Ihre Minister packen heute ihre Sachen zusammen, nach
Presseberichten ist auch das Arbeitszimmer der Präsidentin schon
leergeräumt. Es ist der vorläufige Höhepunkt nach einem monatelangen Hin
und Her. Der Senat – das ist eine von zwei Kammern im Parlament – berät
jetzt und wird in den späten Abendstunden fast sicher beschließen, dass
ein Verfahren gegen Dilma Rousseff zulässig ist. Zuvor hatte sich schon
das Abgeordnetenhaus dafür ausgesprochen, das ist die andere Kammer im
Parlament.
Das ist noch keine
endgültige Entscheidung. Nach brasilianischem Recht muss Rousseff
während des Verfahrens aber den Regierungspalast verlassen,
voraussichtlich schon am Donnerstag. Das eigentliche Verfahren kann dann
bis zu 180 Tage dauern. Rousseff kehrt wieder ins Amt zurück, falls der
Senat am Ende gegen die Amtsenthebung entscheidet oder falls die 180
Tage ohne Ergebnis verstreichen. All das ist denkbar, sämtliche
politischen Kräfte und Institutionen ringen miteinander um diese Frage.
Der Prozess war schon bisher voller Überraschungen. Allerdings ist eine
endgültige Verurteilung Rousseffs wahrscheinlicher.
In der Privatresidenz
für Präsidenten, dem von Brasiliens Stararchitekten Oscar Niemeyer
ersonnenen Alvorada-Palast, darf Rousseff allerdings erst mal wohnen
bleiben.
2. Wie schwer wiegen die Vorwürfe gegen Dilma Rousseff?
Das
Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff ist eine fragwürdige
Angelegenheit. Politisch gesehen spricht viel gegen die Präsidentin: So
hat sie kein gutes Rezept gegen die massive Wirtschaftskrise des Landes
vorgelegt, und unter ihrer Aufsicht sind mehrere riesige
Korruptionsskandale bekannt geworden. Über viele Jahre hinweg wurden bei
großen Geschäften rings um den staatlichen Ölkonzern Petrobras und bei
Baufirmen drei Prozent der Vertragssumme abgezweigt, über internationale
Mafias gewaschen und hinterher Politikern zugeleitet. Engste Vertraute
Rousseffs wurden bereits überführt, einige mussten schon ins Gefängnis
und sogar ein Teil der Wahlkampagne der Präsidentin soll aus solchen
Mitteln finanziert worden sein. Es ist schwer vorstellbar, dass Rousseff
von all diesen Vorgängen nichts gewusst hat. Das gilt noch mehr für
ihren Amtsvorgänger und geistigen Ziehvater, den Volkstribunen Lula da
Silva, der bis heute ihr enger Berater ist.
Bloß: Auf dem Papier hat
das Amtsenthebungsverfahren damit gar nichts zu tun. Rousseff gilt als
persönlich unbestechlich, und bisher war ihr nichts nachzuweisen.
"Politische Mitverantwortung" reicht für eine Amtsenthebung nicht aus.
Daher schiebt die Opposition einen Ersatzgrund vor. Rousseff hatte
einige Male den Staatshaushalt irreführend berechnen lassen, unter
anderem, um ihre umfangreichen Sozialprojekte nicht kürzen zu müssen und
um bei Wahlen besser dazustehen. Jeder in Brasília weiß aber, dass es
um diese Vorwürfe nicht geht, zumal auch andere Präsidenten solche
Tricks verwendet hatten. Etliche namhafte Juristen glauben, dass die
Sache mit dem Staatshaushalt kein zulässiger Grund für ein
Amtsenthebungsverfahren sein kann. Daher sprechen Rousseffs Anhänger
(und sie selbst) von einem "Staatsstreich". Die Opposition manövriere
sich an die Macht und plane eine Politik, für die das Volk bei den
jüngsten Wahlen nicht gestimmt hatte.
3. Wer soll die Regierungsgeschäfte übernehmen?
Der
bisherige Vizekanzler Michel Temer. Das ist ein Politikveteran der
Partei PMDB, mit der Rousseff koaliert hatte; man kann ihn politisch
schwer verorten, weil er vor allem machtpolitisch und pragmatisch denkt
und mit allen politischen Lagern im Gespräch ist. Sicher ist, dass
Temers Programm bürgerlicher und wirtschaftsliberaler ausfällt als das
der Sozialdemokratin Rousseff und ihrer Arbeiterpartei PT: umfangreiche
Privatisierungen ("alles, was möglich ist"), Erleichterungen für
Unternehmen und insgesamt Kürzungen bei Sozialleistungen.
Tatsächlich ist das eine
andere Politik als die, für die die Brasilianer Ende 2014 gestimmt
hatten, als sie Rousseff wiederwählten. Andererseits ist der Rückhalt
der Präsidentin und ihrer Arbeiterpartei seither in der Bevölkerung wie
im Parlament fast komplett verschwunden. Das lag vor allem an der
Wirtschaftskrise, an der Serie riesiger Korruptionsskandale im Land und
an der sperrigen, belehrenden, etwas pompösen Art Rousseffs. Gewählt hin
oder her: Wenn Rousseff im Amt verbliebe, oder wenn sie bald wieder
zurückkehrte, könnte sie zum jetzigen Stand kaum ihre
Politikvorstellungen umsetzen. Allerdings: Auch so etwas kann sich in
Brasilien wieder ändern.
4. Hilft der Regierungswechsel im Kampf gegen die Korruption?
Wahrscheinlich
nicht – und möglicherweise im Gegenteil. Dass in Brasilien neuerdings
so viel über die Korruption bekannt wird, liegt an einer spektakulär
schlagkräftigen und erfolgreichen Gruppe junger Staatsanwälte und
Richter des Landes. Sie haben vor einigen Jahren geradezu zu einer Hatz
auf korrupte Mitglieder der Eliten gerufen: Niemand im Lande solle
glauben, er stehe über dem Gesetz. Senatoren, Konzernchefs,
Parteigeschäftsführer und Gouverneure mehrerer politischer Lager sind
seither belangt worden, die Ersten sitzen im Gefängnis. Sogar der
Ex-Präsident Lula da Silva wurde kürzlich zwangsweise von der Polizei zu
einer Vernehmung auf die Wache abgeführt, und am Montagmorgen ereilte
das gleiche Schicksal den ehemaligen Finanzminister Rousseffs, Guido
Mantega.
Es gibt einige
Vorwürfe, nach denen da Silva und Rousseff versucht haben sollen, einige
ihrer Vertrauen vor der Strafverfolgung zu schützen – das stützt sich
bisher auf die Aussage einzelner Kronzeugen sowie auf Pressegerüchte,
und nichts davon gilt als bewiesen. Im Gegenteil haben die
Untersuchungen der jungen Juristen unter da Silva und Rousseff besonders
an Fahrt gewonnen. Ihre Unabhängigkeit, ihre finanzielle Ausstattung
und die Vielfalt der verfügbaren juristischen Instrumente nahmen zu. Das
blieb auch so, als die Strafverfolger sich in den vergangenen Monaten
auffällig stark um Korruptionsverdächtige aus dem Umfeld der
Regierungspartei kümmerten.
Die
Verschwörungstheorie in Brasília lautet, weit über das alte
Regierungslager hinaus: Die neue Regierung und ihre Unterstützer werden
den Kampf gegen die Korruption bald einstellen oder abschwächen. Kein
Mensch kann so etwas im Voraus beweisen, und in der aufgeregten
derzeitigen Stimmung wäre das politisch sehr unklug. Es würde aber den
Interessen der neuen Machthaber entsprechen.
Nach Erhebungen der Nichtregierungsorganisation Transparência Brasil haben 60 Prozent der brasilianischen Senatoren Verfahren wegen Korruption und anderer Delikte am Hals, darunter der Vorsitzende. Als kürzlich im Abgeordnetenhaus über die Amtsenthebung Rousseffs abgestimmt wurde, sah die Statistik ähnlich aus – viele Volksvertreter, die ans Mikrofon traten und sich wütend über Korruption beschwerten, waren angeklagt oder überführt, einer wird gar von Interpol gesucht. Eine Abgeordnete, die "Nieder mit der Korruption" gebrüllt hatte, wurde am nächsten Morgen von der Polizei geweckt: Ihr Ehemann, ein Bürgermeister, wurde wegen Korruptionsvorwürfen abgeführt.
Nach Erhebungen der Nichtregierungsorganisation Transparência Brasil haben 60 Prozent der brasilianischen Senatoren Verfahren wegen Korruption und anderer Delikte am Hals, darunter der Vorsitzende. Als kürzlich im Abgeordnetenhaus über die Amtsenthebung Rousseffs abgestimmt wurde, sah die Statistik ähnlich aus – viele Volksvertreter, die ans Mikrofon traten und sich wütend über Korruption beschwerten, waren angeklagt oder überführt, einer wird gar von Interpol gesucht. Eine Abgeordnete, die "Nieder mit der Korruption" gebrüllt hatte, wurde am nächsten Morgen von der Polizei geweckt: Ihr Ehemann, ein Bürgermeister, wurde wegen Korruptionsvorwürfen abgeführt.
Erzfeind von Dilma
Rousseff ist der ehemalige Chef des Abgeordnetenhauses Eduardo Cunha,
der gerade erst vom obersten Gericht von seinen Ämtern freigestellt
wurde: wegen des Verdachts auf Korruption, Geldwäsche, Einschüchterung
von Informanten und kriminellen Verstrickungen. Der antretende
Ersatzpräsident Temer wurde von einem anderen Gericht für acht Jahre
lang als unwählbar erklärt, wegen Betrugs bei der Wahlfinanzierung wurde
ihm das passive Wahlrecht aberkannt. Er hätte also keine Chancen, auf
dem gewöhnlichen demokratischen Weg Präsident zu werden.
5. Kann Brasilien unter der neuen Regierung wieder auf die Beine kommen?
Brasilien steckt in
der tiefsten Wirtschaftskrise seiner jüngeren Geschichte: Die Wirtschaft
schrumpft Jahr für Jahr, die Arbeitslosigkeit legt zu. Das Land ist
sehr abhängig von den internationalen Rohstoffpreisen, weil es viel Erz
und Soja exportiert und weil es groß im Ölgeschäft mitmischt – da ist
die Flaute noch nicht vorbei. Unter da Silva und Rousseff wurde viel zu
wenig in die Infrastruktur investiert. Während die Sozialdemokraten ein
Programm zur Armenhilfe nach dem nächsten auflegten – was der Konjunktur
sehr geholfen hat – fühlten sich Unternehmen stiefmütterlich behandelt.
Der rasch angeschwollene Staatsapparat des Landes arbeitet in großen
Teilen ineffizient und steckt voller korrupter Beamter.
Eine
wirtschaftsliberalere Politik, wie Michel Temer sie jetzt wohl umsetzen
kann, kann dabei helfen. So sehen es zumindest die
Konjunkturverantwortlichen in der Industrie und an den Märkten. Wann
immer es in den vergangenen Monaten politisch schlecht für die
Präsidentin aussah, stiegen die Werte an den Börsen, kletterte der Kurs
der Landeswährung Real in die Höhe, und Unternehmer antworteten in
Stimmungsumfragen hoffnungsfroher. Selbst Unternehmer, die die
Politikrichtung Dilma Rousseffs richtig fanden, gaben zuletzt zu: Mit
einer solch handlungsunfähigen Regierung kann das Land nicht mehr auf
die Beine kommen.
Die wichtigste Frage ist
daher, ob Temer und seine Unterstützer ein Programm schnell umsetzen
können, und ob die Präsidentschaft und das Parlament wieder vernünftig
ihren Geschäften nachgehen können.
Die brasilianische
Presse berichtet seit Tagen – unbestätigt – von einem wilden
Postengeschacher hinter den Kulissen und tiefem Streit zwischen den
Parteien, die nun die Macht übernehmen. Womöglich wollen sich einige
prominente Politiker der Opposition nicht an einer Regierung Temer
beteiligen, solange diese als ein reines Übergangsregime gilt, das zudem
demokratisch zweifelhaft zustande gekommen ist. Die Oppositionskräfte
waren vor allem in ihrer Ablehnung Dilma Rousseffs geeint, inhaltlich
gehen ihre Vorstellungen auseinander, und das bricht jetzt auf.
Das gilt allerdings
für Koalitionen in Brasilien immer. 25 Parteien sitzen allein im
Abgeordnetenhaus, von Kommunisten bis zu Fans einer Militärdiktatur.
Temer gilt als ein besonnener Dealmacher mit einer Hand für den
Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen. Er beschwört in diesen
Tagen sehr lautstark die "nationale Einheit" im Land. Mal sehen, ob er
diese besser erreicht als die glücklose Dilma Rousseff.
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