Die erschreckende Lage der Pressefreiheit
Die Gewalt gegen Journalisten hat 2014 eine neue Qualität erreicht: Islamisten entführen und töten Reporter für ihre Propaganda. Und ein Land im Herzen Europas gehört zu den gefährlichsten Orten.
Die amerikanischen Reporter Steven Sotloff, James Foley und der irakische Kameramann Raad Mohammed al-Asawi – das sind nur drei von zahlreichen Berichterstattern, die 2014 Opfer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) wurden. Die Islamisten, die Teile Syriens und des Irak erobert haben, zwangen in diesem Jahr immer wieder Journalisten dazu, Statisten ihrer brutalen Propaganda zu werden. Sie inszenieren ihre Geiseln und selbst deren Hinrichtung in Internetvideos, um neue Gotteskrieger anzulocken. Insgesamt kamen laut der Jahresbilanz 2014 von Reporter ohne Grenzen (ROG) in Syrien 15 und im Irak vier Journalisten ums Leben.
Der amerikanische Journalist Steven Sotloff wurde von Islamisten ermordet
Foto: dpa Der amerikanische Journalist Steven Sotloff wurde von Islamisten ermordet
Weltweit starben 66 Reporter im Einsatz. Das sind zwar fünf weniger als im vergangenen Jahr, und auch die Gesamtzahl der Übergriffe auf Journalisten ist gesunken – von 2160 Angriffen auf 1846 –, doch eine positive Bilanz ist das für die Organisation nicht. "Die Zahl der getöteten Journalisten ist immer noch hoch, und wir erleben eine neue Qualität der Gewalt, die uns sehr erschreckt", sagt ROG-Geschäftsführer Christian Mihr der "Welt". "Neu ist, dass Journalisten gezielt entführt und die Geiselnahme und Tötung als Propaganda genutzt werden."
In diesem Jahr kamen zwar insgesamt etwas weniger Journalisten ums Leben, aber es gab mehr Geiselnahmen: Waren es 2013 noch 87 Fälle, erfuhr ROG in diesem Jahr bisher von 119 Entführungen. Zurzeit befinden sich 40 Berichterstatter in Geiselhaft. Besonders in der Ukraine (33 Fälle), Libyen (29), Syrien (27) und dem Irak (20) ist die Gefahr groß, entführt zu werden.
Foto: Infografik Die Welt
Arbeit von Journalisten zum Risiko geworden
In vielen Regionen ist die Arbeit von Journalisten unter diesen Umständen zu einem schwer kalkulierbaren Risiko geworden. ROG nennt fünf Gebiete, in denen Journalisten extremer Gefahr ausgesetzt sind: Neben den von den IS-Terroristen eroberten Teilen des Irak und Syriens zählt die Organisation auch den Osten Libyens dazu, wo sich rivalisierende Milizen bekämpfen. Außerdem werden die pakistanische Provinz Belutschistan sowie die vom Bürgerkrieg zerrüttete Ostukraine und die kolumbianische Region Departamento Antioquia genannt, die in den Händen von kriminellen Banden ist. Wer dort zu viele Fragen stellt, begibt sich in tödliche Gefahr.
Auch sind Berichterstatter in diesen Regionen immer öfter zur Flucht gezwungen: 139 Journalisten wandten sich mit diesem Vorhaben 2014 an ROG – das sind fast doppelt so viele Fälle wie noch 2013. Allein aus Libyen flohen 43 Journalisten, aus Syrien 37. "Viele Journalisten fliehen in die Nachbarländer, aus Syrien beispielsweise in den Libanon", sagt Mihr.
Die Ukraine gehört zu den gefährlichsten Ländern für Journalisten – ein Land, das im Herzen Europas liegt. Das ist besonders schockierend
Christian Mihr
Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen
Neben Syrien, dem Irak, den Palästinensergebieten und Libyen, wo 2014 die meisten Journalisten getötet wurden, gilt vor allem die Ukraine als sehr gefährlich für Berichterstatter. Im Osten des Landes sind während der Kämpfe zwischen prorussischen Separatisten und dem Militär sechs Journalisten ums Leben gekommen.
Mehrere ukrainische und internationale Journalisten berichten davon, dass Separatisten sie aufgehalten und gefoltert hätten. Auch an ukrainischen Checkpoints wurden russischen Journalisten festgehalten und verprügelt. ROG weiß von 47 Fällen, in denen Journalisten in der Region festgehalten wurden. Eine alarmierende Entwicklung. "Die Ukraine gehört zu den gefährlichsten Ländern für Journalisten – ein Land, das im Herzen Europas liegt. Das ist besonders schockierend", sagt ROG-Geschäftsführer Mihr.
Doch nicht nur Krieg und Terror erschweren die Berichterstattung – auch die Willkür von Richtern machen die Arbeit für Reporter in einigen Ländern gefährlich. 2014 wurden 178 Journalisten wegen ihrer Arbeit inhaftiert, hinzu kommen ebenso viele Internetaktivisten. Besonders in China (29), Eritrea (28), Iran (19) und Ägypten (16) sitzen viele Journalisten im Gefängnis. Unter ihnen ist auch die chinesische Journalistin Gao Yu, der vorgeworfen wird, ein "hochvertrauliches Dokument" an ausländische Medien gegeben zu haben. Der Mitarbeiterin der Deutschen Welle drohen jetzt fünf bis zehn Jahre Haft.
Weltkarte der Pressefreiheit:
weiß = gute Lage,
gelb = zufriedenstellende Lage,
orange = erkennbare Probleme,
rot = schwierige Lage,
schwarz = sehr ernste Lage
Die Zahl der in China inhaftierten Blogger und Bürgerjournalisten ist mit 73 sogar noch höher. Auch im Iran sitzen viele Internetaktivisten im Gefängnis. Zwar wurde kürzlich der bekannte Blogger Hossein Derakhshan, der 2008 zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, aus der Haft entlassen, doch immer noch befinden sich 27 Menschen im Iran wegen ihrer Beiträge im Internet hinter Gittern. Außerdem wurden Journalisten in 45 Fällen kurzzeitig festgenommen und so bei ihrer Arbeit behindert.
Russlands freie Presse unter Druck
In Russland sind zwar nicht so viele Online-Aktivisten wie im Iran oder in China inhaftiert, doch hier soll ein neues Gesetz die Meinungsfreiheit einschränken: Es verpflichtet russische Blogger und Besitzer von Twitter- und Facebook-Accounts, die täglich mehr als 3000 Leser haben, sich bei den russischen Behörden zu registrieren und für die Inhalte zu haften.
Noch ein weiteres Gesetz schränkt die Pressefreiheit in Russland ein: Es verbietet ausländischen Eigentümern, mehr als 25 Prozent an russischen Medien zu besitzen. Wie schnell die russischen Eigentümer unter Druck geraten, zeigte der Fall der populären Nachrichtenseite "Lenta.ru". Die Chefredakteurin Galina Timtschenko wurde wegen der Ukraine-Berichterstattung der Seite gefeuert, der Großteil der Redaktion ging mit ihr und gründete eine neue Nachrichtenseite in Lettland.
Auch der unabhängige Sender Doschd musste sein Studio in Moskau räumen, weil der russischen Regierung die Berichterstattung nicht gefiel. Beim Radiosender Echo Moskaus, der zwar dem staatlichen Energiekonzern Gazprom gehört, aber immer noch kritische Berichte senden kann, gab es im November einen Konflikt zwischen dem Aufsichtsrat und Chefredakteur Alexej Wenediktow wegen des Tweets eines Moderators. Der Sender musste außerdem ein Interview mit einem Reporter der "Los Angeles Times" über die Kämpfe am Flughafen von Donezk von der Internetseite nehmen.
Während immer wieder über Angriffe auf Journalisten im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, in Syrien und dem Irak berichtet wird, wirft die Jahresbilanz von ROG auch Licht auf "eher vergessene Länder": "Vietnam ist ein Land, das positiv wahrgenommen wird. Aber gerade für Online- und Medienaktivisten ist es sehr gefährlich dort", sagt Mihr. "Auch in Eritrea sind sehr viele Bürgerjournalisten inhaftiert, auch darüber wird eher selten berichtet." In dem ostafrikanischen Staat sitzen 28 Reporter im Gefängnis, und in Vietnam sind 27 Bürgerjournalisten inhaftiert.
Mitarbeit: Julia Smirnova Die Welt
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