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Dienstag, 27. Januar 2015

"Habt Spaß am Essen!"

26. Januar 2015,
Gesund oder gefährlich? Von dieser Lebensmittel-Einteilung hält Ernährungshistoriker Harvey Levenstein nichts. Er erklärt, woher die Hysterie ums Essen rührt - und wer sie schürt.

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Herr Professor Levenstein, seit Jahren kritisieren Sie die wachsende Hysterie im Umgang mit Essen. Was halten Sie von Ernährungsregeln?
Nur wenig. Was mit dem Essen passiert, nachdem es in den Körper gelangt, ist wahnsinnig kompliziert. Noch hat die Wissenschaft nicht wirklich verstanden, welchen Einfluss die Masse an Nährstoffen auf unsere Gesundheit hat.
Aber die Forschung macht doch Fortschritte, dauernd werden neue ernährungsmedizinische Studien publiziert.
Schon 1920 haben Wissenschaftler gesagt, dass sie 90 Prozent von dem verstehen, was mit Essen in unserem Körper passiert. Dabei wusste man damals noch kaum etwas. Natürlich haben wir einige Zusammenhänge aufgedeckt. Aber in 50 Jahren werden wir wieder mit einem anderen Blick auf die Ernährungswissenschaften schauen.
Trotzdem versuchen wir, Nahrungsmittel in "gesund" und "gefährlich" einzuteilen.
Die meisten dieser Kategorien halten der Überprüfung nicht stand. Wir erinnern uns alle an die Zeit, als man Eier als Killer bezeichnete. Mehr als zwei in der Woche führen zum Herzinfarkt, hieß es. Heute gehören Eier wieder zu den Lebensmitteln, die man bedenkenlos essen kann. Auch das Ansehen von Kaffee, Milch, Salz, Butter oder Süßstoffen hat sich Laufe der Zeit drastisch verändert.
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Viele sorgen sich eben, etwas Schädliches zu essen.
Ja, mehr und mehr Menschen sind an Anbau, Verarbeitung und Transport der einzelnen Lebensmittel beteiligt. Hunderte Hände fassen sie an, mischen Stoffe bei, um sie haltbarer oder geschmackvoller zu machen. Das Misstrauen ist da mit der Zeit enorm gestiegen.
Aus guten Gründen. Immer wieder erschüttern Skandale die Nahrungsmittelindustrie.
Richtig. Auf der anderen Seite werden viele Lebensmittel und Ernährungsweisen auch aus finanziellen Interessen heraus beworben oder beanstandet. Hinter vielen Kritiken stehen Produzenten, die ihre Produkte vermarkten wollen. Wir haben es mit einer Multimilliarden- Dollar-Industrie zu tun.
Dann ist die Industrie schuld an der Essenshysterie?
Nicht nur. Auch Forscher leben von finanziellen Förderungen, die sie leichter bekommen, wenn sie bestimmte Inhaltsstoffe als sehr gesund oder gefährlich dastehen lassen und allgemeingültige Regeln aufstellen. Die nutzt die Industrie für ihre Zwecke.
Zum Beispiel?
Die Entdeckung der Vitamine führte zu einer gigantischen Schwemme an zum größten Teil sinnlosen Nahrungsergänzungsmitteln. Oder denken Sie an die irrationale Angst vor Fett.
Woher kommt die?
In den 1950er Jahren untersuchte ein amerikanischer Wissenschaftler die hohe Rate von Herzkrankheiten in den USA. Er glaubte, dass es vor allem Manager trifft, hart arbeitende Männer, die ständig Steaks essen. Doch seine Theorie beruhte auf falschen Schlussfolgerungen. Etwa zwanzig Jahre später rief die Amerikanische Herzgesellschaft dazu auf, sich fettarm zu ernähren und tierische Fette durch pflanzliche zu ersetzen. Auch für diese viel zu einseitige Empfehlung fehlten aussagekräftige Studien.
Aber sie nutzte den Firmen.
Die schufen eine gigantische Palette angeblich cholesterinsenkender Produkte. Der Verbrauch von Margarine verdoppelte sich in den USA zwischen 1950 und 1972. 40 Jahre hat es gedauert, die Fett-Theorie auch in der Öffentlichkeit ins Wanken zu bringen. Vor ein paar Monaten titelte das "Time-Magazine": Esst Butter.
Auch Sie haderten eine Weile mit dem Fett.
Meine Schwester starb in den späten 80er Jahren an Brustkrebs. Die Amerikanische Krebsgesellschaft hatte damals gerade vorschnell verlauten lassen, dass gesättigte Fettsäuren - und damit auch das heiß geliebte Corned-Beef- Sandwich meiner Schwester - Krebs auslösen können. Da war es schwer, nicht darüber nachzudenken, ob sie selbst an ihrer Krankheit schuld war.
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Auf welche Informationen kann man sich noch verlassen?
Wichtig ist, skeptisch gegenüber strikten Ernährungsregeln zu bleiben und aufzuhorchen, wenn bestimmte Lebensmittel plötzlich nur noch gefährlich sein sollen.
Sind Wissenschaftler und Gesundheitsorganisationen heute vorsichtiger mit ihren Empfehlungen?
Leider nicht. Schauen Sie sich die Debatte um den Body-Mass-Index (BMI) an. Seit Jahren wird den Menschen geraten, möglichst schlank zu sein. Als die WHO in den 90er Jahren die Kriterien für Übergewicht einführte, wurden Millionen Menschen zu potenziellen Patienten. Studien der vergangenen Jahre zeigen nun, dass moderat Übergewichtige durchschnittlich länger leben als sehr dünne, adipöse und oft sogar als normalgewichtige Menschen.
Auch in Deutschland sind die Supermarktregale voll von Light-Produkten, alles soll fettarm sein und frei von Zucker. Haben Sie einen Rat für uns?
Hört auf damit! Seht Lebensmittel wieder als das, was sie sind: Nahrung – und keine Medikamente. Und habt Spaß am Essen.
Harvey Levenstein ist emeritierter Professor für Geschichte in Kanada. Sein Buch "Fear of Food" handelt von der Sorge der Menschen um ihr Essen

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